César Luis Menotti: Der rauchende Mann

Sollten Sie
etwas über den am 5. Mai 2024 gestorbenen César Luis Menotti als Fußballtrainer
wissen wollen, sind Sie hier falsch, bitte gehen Sie dann weiter,
lesen Sie den richtigen Nachruf.

Hier nun wird
es allein darum gehen, was der Fußball sein kann, wenn er bereits den
Zustand des unmittelbar Gespielten und von Expertinnen und Laien Besprochenen
verlassen hat. Wenn Bilder und sogenannte Gefühle bereits in der Erinnerung
vergilben, wenn das Eigentliche, der Fußball, Niederlage, Sieg, Unentschieden, längst weggeraucht
ist. Das Rauchen nämlich, das selbstverständlich ungesund und niemandem zu
empfehlen ist, spielte bei Menotti eine wesentliche Rolle in seiner
sogenannten aktiven Zeit als Trainer, und darum gehört es hierhin, und es
gehörte zwingend zu ihm. Möchte man versuchen, mit Menotti das Bild einer
vergangenen vermeintlichen Geschlossenheit von Männlichkeit nachzuerzählen, die
in einem großen Trotzdem endet, muss man sich eine Zigarette anzünden. Und sei
es im Geiste. Mit den Zigaretten (die er im Alter aufgab) spottete Menotti seiner
Gesundheit ebenso wie der Welt, und zugleich hielt er sich die Welt damit angenehm
auf Abstand. So sah es jedenfalls aus.

Es gibt eine
Ausgabe des Magazins der Süddeutschen Zeitung, Nummer 25, 21. Juni 2013, auf dessen Cover ein Schwarz-Weiß-Foto des rauchenden Menotti abgebildet ist, leider ist das Foto
nicht datiert, es stammt vermutlich von Ende der Siebziger-, Anfang der
Achtzigerjahre. Kopfporträt, Zigarette im Mund, die rechte Hand hält den Stängel
mit den Spitzen von Daumen und Mittelfinger, so rauchten Männer früher; Menotti
trägt kein Oberteil, man sieht den Brustansatz, die angedeutete Nacktheit hat
erstaunlicherweise nichts Obszönes, man sah den Trainer Menotti zu jener Zeit ums
Jahr 1980 oft auch auf Bildern vom Trainingsplatz oben ohne, er hatte ja selbst
Fußball gespielt, in Rosario und bei den Boca Juniors, und um die 40 war er immer
noch fantastisch schlank; um den Hals trägt Menotti auf dem Foto eine dicke
Goldkette, die Haare sind lang wie stets, die Koteletten bereits ergraut.
Menotti ist hier sein eigener Archetyp: ein ganzer Mann. Im Sinne von: Da sind
keine Brüche erkennbar, da ist Geschichte schon in einen Menschen eingesickert,
und der ist damit einverstanden, er ist ganz bei sich, mit größter
Selbstverständlichkeit, und auch darum unfassbar sexy. Sein linkes Auge fixiert
die Kamera, das rechte scheint an ihr vorbeizuschauen. Dieser Mann posiert
nicht, er ist einfach da und zugleich völlig woanders.


Das „SZ-Magazin“ aus dem Jahr 2013 mit Menotti auf dem Titel

Als das SZ-Magazin
im Juni 2013 aus der Zeitung fiel, so glaube ich mich zu erinnern, war der
Anblick dieses Covers ein Schock, weil damit unmittelbar eine
Kindheitserinnerung zurückkam. Der Fußball mit seinen Saisons und
internationalen Turnieren ist ja immer nebenher auch ein Zeitmessgerät fürs
eigene Leben. Irgendwann springt man auf den Zeitzug nach Nirgendwo auf, in
Richtung Titelhoffnungen und viel mehr Enttäuschungen. Was vorher los war im
Fußball, erfährt man von den Älteren, so wie man später den Jüngeren vom
Vergangenen erzählen kann, falls die es denn hören wollen. 1978 also, 35 Jahre
vor jener SZ-Magazin-Ausgabe, Fußball-WM der Männer in Argentinien, die erste
Weltmeisterschaft, die ich bewusst gesehen habe. Ich war sieben Jahre alt, wir
waren im Urlaub, Südtirol, glaube ich.

Im Gedächtnis
sind mir von dieser WM nur zwei Bilder hängengeblieben: Die Unmengen an
Klopapierrollen, die in den argentinischen Stadien von den Fans
heruntergeworfen wurden von den Tribünen, das Papier entrollte sich im Flug und
musste dann aus den Sechzehnmeterräumen regelrecht weggeschaufelt werden in
großen Klopapierbergen; und das Bild von Menotti, rauchend auf der Trainerbank.
Er führte die argentinische Nationalmannschaft bei der Heim-WM zum
Titel, während zur selben Zeit die Mörder der faschistischen Militärdiktatur
die eigene Bevölkerung knechteten. Ein unauflösliches Dilemma muss das gewesen
sein, zumal für einen Mann wie Menotti, der in Anlehnung an den portugiesischen
Schriftsteller José Saramago
von sich selbst als „hormonellem Marxisten“
sprach.

Im SZ-Magazin
vom 25. Juni 2013 war ein Interview mit Menotti. Anlass war, dass Pep Guardiola
damals vom FC Barcelona (den Menotti in der Saison 1983/84 trainierte) zum
FC Bayern München wechselte als Trainer
und dass Guardiola Menotti verehrte.
Der schwärmt in dem SZ-Gespräch zurück in Richtung Guardiola, Menotti schwärmte
überhaupt wahnsinnig gut, etwa auch über den damaligen deutschen Fußball im
Aufbruch. Menotti konnte ja nicht wissen, wie die WM ein Jahr später ausgehen
würde; wie Argentinien gegen dieses neue Deutschland verlieren würde im Finale:
mit einem wunderschönen Tor, am Ende eines ansonsten von beiden Seiten nicht
sehr ansehnlich geführten Spiels.

Das SZ-Magazin-Gespräch ist eines
von vielen bildhübschen Interviews, die Menotti in seinem Leben
gegeben hat, insofern ist es gar nichts so Besonderes. Und doch, dieses endet
mit einer epochalen Antwort auf die Frage, ob Fußball immer noch der beste
Sport sei. Menotti sagt: „Fußball ist ein sehr weises und wunderschönes Spiel.
Das Geheimnis des Fußballs ist Zeit, Raum und Täuschung. Wie im Leben. Mit der
Zeit umgehen, Räume finden und mit der Täuschung zurechtkommen.“

Über diese
Aussage könnte man nun tagelang nachdenken, genauso wie über Menottis gerne
zitierte, es gebe einen linken und einen rechten Fußball, und er habe
selbstverständlich stets linken (nämlich schönen) und nicht rechten (nämlich
zerstörerischen, weil rein ergebnisorientierten) spielen lassen. Womöglich käme
man nach Tagen des Nachdenkens also zu dem Schluss, dass „Zeit, Raum und
Täuschung“ tatsächlich die Zauberformel des Fußballs UND des Lebens ist – oder, andere Möglichkeit, dass
das Quatsch ist.

In jedem Fall
aber sind Menottis Sätze reine Poesie. Und das ist dann vielleicht auch schon
das große Geheimnis der Wirkung dieses Mannes auf viele Menschen, die heute älter
sind als 50 und sich an Menotti noch rauchend auf einer Trainerbank sitzend
erinnern können, als Bild aus der eigenen Kindheit: Menotti gab
einem dem Glauben, der Fußball, das ewige Gewinnen und Verlieren und Unentschieden,
könne einen höheren Sinn haben. Und dass dieser höhere Sinn unter anderem darin
bestehen könnte, eine flüchtige Schönheit herzustellen, die im Augenblick des
Geschehens auf dem Platz entsteht und sogleich wieder vergeht – und doch auf
alle Zeiten weiter bestehen wird, als Erinnerung der Vielen an die Aktionen der Wenigen, der echten Helden, der Fußballer. César Luis Menotti saß dabei am Rand, eigentlich wie wir
anderen. Nur hatte er sich im Unterschied zu uns anderen das alles ausgedacht:
das, was da auf dem Platz geschah; und was es bedeuten könnte.