Bund Sahra Wagenknecht: Eine Friedenspartei setzt sich in Kriegszeiten durch
Das BSW guckt ZDF, und als in dessen Wahlsendung auf der Leinwand der Name „Marie-Agnes Strack-Zimmermann“ fällt, tönen Pfiffe und Buh-Rufe durch das Kosmos in Berlin. Es wird das einzige Mal bleiben (bis die FDP-Spitzenkandidatin bei den Europawahlen später selbst im Bild zu sehen ist). Was schon vor der ersten Prognose folgt, ist Jubel: Als der Moderator den Abwärtsknick der AfD-Umfragekurve um den Jahreswechsel herum mit der Gründung des BSW in Verbindung bringt. Jubel, als den Grünen Verluste von acht Prozent prognostiziert werden. Jubel, als von einer auf 66 Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung die Rede ist. Und schließlich Jubel, als das erste Wahlergebnis in der Geschichte des Bündnis Sahra Wagenknecht selbst zu sehen ist: Sechs Prozent.
„Wir haben Parteiengeschichte geschrieben“
Sie werden beim BSW schon wissen, warum sie die ZDF-Übertragung eingeschaltet haben – die erste Prognose der ARD sieht die neue Partei bei einem halben Prozentpunkt weniger, bei 5,5 Prozent. Doch selbst angesichts dessen, dass es von der ersten Prognose bis zum Endergebnis ein weiter Weg ist, steht fest: Diese Parteigründung ist geglückt. Das Spitzenduo aus Fabio De Masi und Thomas Geisel, der Diplomat Michael von der Schulenburg, Sahra Wagenknechts Büroleiterin Ruth Firmenich sowie der Zwickauer Neurochirurg Jan-Peter Warnke dürften sicher ins Europaparlament einziehen. Die nächsten auf der BSW-Liste wären der Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen und Kritiker der Corona-Maßnahmen, Friedrich Pürner, der Duisburger Thyssen-Krupp-Betriebsratsvorsitzende Erkan Kocalar und die in Brüssel erfahrene ehemalige Linken-Politikerin Judith Benda. „Wir haben Parteiengeschichte geschrieben!“, ruft BSW-Geschäftsführer Christian Leye kurz nach der ersten Prognose in den Saal. Noch nie habe eine Partei nur ein halbes Jahr nach ihrer Gründung solch ein hohes Wahlergebnis erzielt.
Tatsächlich hatten sie beim BSW gebangt, ob es wirklich für einen Auftakt mit Ausrufezeichen reichen würde. Begeistert hätten sich zwar viele Menschen den Wahlkampfständen der Partei genähert, heißt es aus der Partei – doch überraschend oft versehen mit dem Satz „Ich finde Sahra Wagenknecht großartig und wähle darum schon immer Die Linke“.
Platz 28 auf dem Wahlzettel
Als die unter drei Prozent liegende Prognose für die Linke sichtbar wird, bleibt es – anders als bei den Grünen – ruhig, viele hier sind vor nicht mehr als einem halben Jahr aus der Partei ausgetreten. Im Kosmos, dem ehemaligen Kino in Ostberlin, hatten sie Ende Januar mit dem Gründungsparteitag das Bündnis Sahra Wagenknecht aus der Taufe gehoben. Es folgten der Aufbau von Strukturen für die Teilnahme an den Europawahlen, der in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt für die Landtagswahlen im Herbst und vor allem die Vorbereitungen für den Wahlkampf. „Unser Team passt in ein Taxi“, erklärt Bundesgeschäftsführer Lukas Schön, wie wenige Hauptamtliche und wie viele Ehrenamtliche hinter der Kampagne der vergangenen Wochen stehen.
Tatsächlich schien die vor weniger als sechs Monaten gegründete und auf dem langen Europawahlzettel auf Platz 28 weit unten stehende Partei zu Beginn des Wahlkampfs wenig wahrnehmbar. Doch je näher der 9. Juni rückte, desto häufiger waren BSW-Plakate in der Republik und Kandidaten in den TV-Wahlsendungen zu sehen – zuletzt nach einer erfolgreichen Klage des BSW gegen den WDR. Fundamentale Kritik an Waffenlieferungen und vehemente Forderungen nach Diplomatie im Ukraine-Krieg waren dadurch erstmals fernab der AfD vernehmbar. Für letztere wie auch für das BSW dürfte es sich förderlich ausgewirkt haben, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ampelregierung kurz vor der Europawahl ihre Zustimmung zum Beschuss von Zielen in Russland mit deutschen Waffen erklärt hatten. Dass die herben Verluste der Kanzlerpartei SPD spürbar mit der Alternative BSW zu tun haben, ist nicht überraschend. „Wir hätten nicht dagegen, würde der Wahlkampf jetzt noch zwei Wochen dauern“, sagt einer aus dem BSW-Apparat.
BSW: Ostdeutschland, Migrationshintergrund und Arbeiterinnen
Dass ferner eine ökonomisch linke und kulturell konservative Kraft im deutschen Parteienspektrum eine Leerstelle besetzen würde, ist seit Jahren fast schon eine politikwissenschaftliche Binse. Nun scheint eine Formation entstanden zu sein, die über die organisatorische Professionalität und den unbedingten politischen Willen verfügt, dieses Vakuum zu füllen.
Erst dieser Tage hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung „Aktuelle Erkenntnisse über die BSW-Wahlbereitschaft aus der WSI-Erwerbspersonenbefragung“ vorgestellt und die Frage „Wer wählt Bündnis Sahra Wagenknecht?“ auf Grundlage seiner regelmäßigen Befragung von Erwerbspersonen beantwortet: BSW wählen demnach „Befragte aus Ostdeutschland, Personen ohne Abitur und Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig“. In Ostdeutschland wird das BSW bei den Europawahlen mit um die 13 Prozent wohl drittstärkste Kraft hinter AfD und CDU.
BSW-Wahlhelferin Marie-Agnes Strack-Zimmermann?
Arbeiter und Arbeiterinnen, Menschen mit niedrigem Einkommen, ohne finanzielle Rücklagen, mit hohen Belastungen, wirtschaftlichen Sorgen und mangelndem Vertrauen in Institutionen wie die öffentlich-rechtlichen Medien und die Bundesregierung neigen der neuen Partei zu, so der WSI-Report weiter. Zuletzt gewählt hätten BSW-Sympathisanten meist die Linke oder die AfD. Die Zuwächse der Rechtspopulisten vermag die Wagenknecht-Partei laut WSI insofern zu bremsen, als sie gerade diejenigen erreicht, die die AfD erst einmal gewählt haben oder kurz davor standen, dies erstmals zu tun, vor allem in Ostdeutschland. Im Ranking der von Wählerabwanderung zum BSW bedrohten Parteien steht die FDP übrigens auf Platz drei. „Den zahlenmäßig größten Teil der BSW-Sympathisant*innen“, so der WSI-Report schließlich, „stellen jedoch Befragte, die bei der letzten Bundestagswahl noch die SPD wählten“.
Im Kosmos auf der Bühne erzählt Spitzenkandidat De Masi, dass ihn gerade viele Journalisten darauf angesprochen hätten, dass es eine bemerkenswerte Wählerwanderung von der unter fünf Prozent abgestürzten FDP zum BSW gegeben habe. „Mir liegen dazu keine gesicherten demoskopischen Erkenntnisse vor“, sagte De Masi, „es könnte aber mit deren Spitzenkandidatin zu tun haben“.