Bürgergeld: Figur des unwürdigen Armen soll von den großen Problemen unterbrechen

In der aktuellen Debatte um das Bürgergeld tritt sie erneut zutage: die alte Trennung zwischen den „würdigen“ und den „unwürdigen“ Armen. Bereits Paulus sagte: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“, und legte damit einen Grundstein für die Unterscheidung zwischen Arbeitsunwilligkeit und Arbeitsunfähigkeit. Im späten Mittelalter wurde diese Differenzierung in Gesetze gegossen, als Stadtverwaltungen festlegten, dass nur diejenigen betteln durften, die wirklich bedürftig waren. Sie durften sich im Stadtkern aufhalten, während jene, die arbeiten konnten, aber angeblich nicht wollten, vor die Stadttore gesetzt wurden. Armut war zum einen gottgewollt, zum anderen Resultat individueller Entscheidungen der Armen selbst.

Ludwig Erhard und die Gammler

Mit der Industrialisierung verschwand die Moralisierung von Armen nicht vollständig, sie wurde jedoch zunehmend durch ein Verständnis von Arbeitslosigkeit als strukturellem Problem ersetzt. Doch insbesondere in Krisenzeiten greifen Politiker immer wieder auf vormodernes Denken zurück. Auch in der Bundesrepublik überlebte das Bild des „unwürdigen Armen“. In den 1960er Jahren gerieten beispielsweise die Gammler in den Fokus; Bundeskanzler Ludwig Erhard wetterte 1966 gegen sie, als es eng um ihn wurde und er durch die Schaffung eines inneren Feindes sein Ideal einer „formierten Gesellschaft“ zu stützen versuchte.

Doch das bis dahin erfolgreiche Akkumulationsmodell – und mit ihm eine bestimmte Phase des Kapitalismus – stieß allmählich an seine eigenen Grenzen. Anstatt dies zu erkennen, richteten die Regierenden ihren Blick lieber auf die vermeintlich untätigen Hände der Arbeitslosen. Mitte der 1970er Jahre stieg die Arbeitslosigkeit in Westdeutschland erstmals seit den 1950er Jahren wieder über eine Million und sogleich betrat die Figur des faulen Arbeitslosen die mediale Bühne. Spätestens Anfang der 1980er Jahre wurde deutlich, dass die Massenarbeitslosigkeit, die den Kapitalinteressen diente, nicht schnell verschwinden würde. Eine Debatte über die individuelle Schuld der Einzelnen an ihrer Arbeitslosigkeit folgte der nächsten. Auch Anfang der 1990er Jahre lenkte Helmut Kohl von den strukturellen Problemen ab, indem er den „kollektiven Freizeitpark Deutschland“ erfand, um das Scheitern der „blühenden Landschaften“ im Osten zu kaschieren.

Gerhard Schröder trat 1998 mit dem Ziel an, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Stattdessen stieg sie weiter an. Um Unterstützung für seinen radikalen Umbau des Arbeitsmarktes und des Sozialstaats zu gewinnen, eröffnete er 2001 eine fast zehn Jahre dauernde Debatte über „faule Arbeitslose“ und eine „neue Unterschicht“. Über die Bild ließ er verkünden: „Es gibt kein Recht auf Faulheit!“

Alles für Schuldenbremse und Superreichtum!

Und heute? Immer noch sind Millionen arbeitslos, doch das Problem der Massenarbeitslosigkeit ist nicht mehr so drängend. An grundsätzlichen Herausforderungen mangelt es jedoch nicht. Die Krisen des Kapitalismus und des Politischen in Deutschland durchdringen mehr und mehr Bereiche und werden durch geopolitische Umwälzungen verschärft. Die Figur des unwürdigen Armen kommt wie gerufen, um von den großen Problemen abzulenken. Gleichzeitig muss Geld eingespart werden, weil die Schuldenbremse wie ein Heiligtum behandelt wird.

Das gilt auch für den Reichtum der Superreichen. Anstatt auf einen Anteil der zwei Billionen Euro zurückzugreifen, die sich im Besitz von rund 3.300 Superreichen in Deutschland befinden, begnügt sich die Bundesregierung damit, ein paar Milliarden beim Bürgergeld einsparen zu wollen. Für 2025 wird es keine Erhöhung des Bürgergelds geben, und der Druck auf Arbeitslose, auch durch Sanktionen, soll wieder steigen. Vielleicht könnte man die Faulen und Unwürdigen ja zwingen, neue Stadtmauern und Tore zu errichten.