Bruno Latour ist tot

Philosoph und Soziologe Bruno Latour (Archivbild)


Foto: Uli Deck / dpa

Man musste sich Bruno Latour wahrscheinlich als einen Optimisten vorstellen. Im Bereich der empirischen Soziologie ist das eher eine Seltenheit. Vielleicht ist seine generelle Zuversicht im Hinblick auf den Menschen und dessen Rolle in der Natur aber auch genau das, was Latour vor allem in den vergangenen Jahren zu einem Star der französischen Intellektuellen-Szene und weit darüber hinaus machte.

Wie sein Verlag Les Éditions La Découverte der Nachrichtenagentur dpa in Paris bestätigte, starb der Wissenschaftsphilosoph und Soziologe in der Nacht zu Sonntag im Alter von 75 Jahren. Latour galt als einer der größten zeitgenössischen Intellektuellen Frankreichs und wurde unter anderem als »einer der großen Erneuerer der Sozialwissenschaften« geehrt. Er war Professor an der Elitehochschule Sciences Po in Paris, seine Bücher sind in mehr als 20 Sprachen erschienen.

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron würdigte Latour am Sonntag als humanistischen und pluralistischen Geist und drückte die große Anerkennung der französischen Nation für den Vordenker aus. »Seine Überlegungen und seine Schriften werden uns auch weiterhin zu neuen Verhältnissen zur Welt inspirieren.« Premierministerin Élisabeth Borne schrieb, Latour hinterlasse Werke, die auch in Zukunft das Bewusstsein anregen würden.

»Lektionen aus dem Lockdown«

Dazu werden wohl in jedem Fall seine zuletzt erschienen, zunehmend alarmistischen Schriften und Vorträge gehören: »Kampf um Gaia«, seine 2015 die aus einer Vortragsreihe hervorgegangene Untersuchung über die Beschäftigung mit dem »neuen Klimaregime«. Oder »Où atterrir?« (Wo soll ich hin?) seine Studie von 2017, die in Deutschland unter dem Titel »Das terrestrische Manifest« erschien. »Où suis-je?« (Wo bin ich?) hieß sein letztes, im Winter 2021 erschienenes Buch mit dem Untertitel: »Lektionen aus dem Lockdown«.

Latour ging es um eine Verschiebung der Perspektive des Menschen auf sich selbst. Er sollte sich aus der althergebrachten, von der Wissenschaft initiierten Sichtweise von sich selbst als Außerirdischer, der mit Forscherblick aus dem All auf die Erde blickt, lösen, um zu einem Bewusstsein als Teil der ihn umgebenden Natur zu gelangen. Statt also wie ein Satellit oder mittels Google Earth distanziert auf Klima- und Naturphänomene zu starren und dabei bewegungslos zu verharren, forderte er den Menschen auf, sich wie Franz Kafkas Gregor Samsa in »Die Verwandlung« tief in den weit verschlungenen Termitenbau des ihn umgebenden Umwelt- und Regelsystems einzugraben, um sich als »Erdverbundener«, als Teil der Biomasse zu begreifen.

Die Technologie, die im Alltag immer dominanter wird, begriff er dabei nicht, wie viele zeitgenössische Kolleginnen und Kollege, als Feind des Menschen, sondern als Bestandteil der ihn umgebenden Systeme, den sich der Mensch zunutze machen sollte. Ziel: Sich als in den terrestrischen Lebensraum eingebundenes Wesen zu verstehen und sich buchstäblich zu erden.

»Parlament der Dinge«

Latour war einer der Begründer der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie, die über den tradierten Gedanken einer rein sozialen Konstruktion von Wirklichkeit hinaus geht. Vielmehr schrieben sich Natur und Gesellschaft in ständig neuen Verbindungen gegenseitig Eigenschaften zu. Latour entwickelte daraus die Idee eines »Parlaments der Dinge«, in dem auch nicht-menschliche Akteure über die Bedingungen der Realität mitentscheiden sollen.

Gerade den Corona-Lockdown mit seiner Beschränkung des Individuums auf den engsten, lokalen Raum betrachtete Latour als ideales Experimentierfeld, um diesen in seinen Augen für die Zukunft notwendigen Perspektivwechsel zu vollziehen. Latour liebte solche griffigen Allegorien. Er könne gar nicht abstrakt denken, sagte er einmal, er brauche immer einen empirischen Rahmen, der konkrete Bedingungen vorgebe.

So entstand, als Gegenbewegung zur französischen Gelbwesten-Protestwelle in Frankreich, auch das »Denkatelier«, das Latour auf Anregung der Regierung unter dem Titel »Où atterrir?« schuf, ein Thinktank, in dem über staatsbürgerliche Verantwortung ebenso wie über das von ihm kritisch betrachtete Primat der Ökonomie und daraus resultierende materielle Zwänge reflektiert werden sollte. Die Energiewende, die Klimakrise und die auch daraus folgenden sozialen Konflikte sollten durch die Vernetzung von Wissenschaftlern und Intellektuellen in politische Zusammenhänge gesetzt werden.

»Gewaltige Reaktion eines Bodens«

Der 1947 in Beaune geborene Latour geriet durch seinen Ansatz, Philosophie im Konkreten zu verankern, auch in die Kritik. In den Neunzigerjahren wurde er zum Angriffsziel im sogenannten Krieg der Wissenschaften. Naturwissenschaftler empfanden es als Affront, dass Soziologen wie Latour ihre Mechanismen der Wahrheitsproduktion erkundeten. Latour betonte, er beschreibe nur die Fähigkeit wissenschaftlicher Netzwerke, Objektivität hervorzubringen. Zuletzt gerieten seine Überlegungen, den Menschen sozusagen vom Kopf in den Wolken der Realitätsflucht wieder auf den Boden der Erde zu holen, in den Ruch, allzu klassenkämpferisch, esoterisch oder gar, wegen seiner Globalisierungs-Skepsis und seinem Plädoyer fürs Regionale und Lokale, verschwörungstheoretisch zu wirken.

In seinem »terrestrischen Manifest« hängt schließlich alles mit allem zusammen: Die soziale und ökonomische Ungleichheit, den um sich greifenden Populismus und die »Migrationskrise« könne nur verstehen, schrieb er, wer begreife, dass es sich dabei »um drei letztlich nachvollziehbare, wenn auch wenig wirksame Antworten auf die gewaltige Reaktion eines Bodens auf das handelt, was die Globalisierung ihm angetan hat«.

Wegen seiner Feldstudien, ob vor Gericht oder im Labor, deren Ergebnisse er in seine Denkmodelle einordnete und verarbeitete, bezeichnete sich Latour selbst als »empirischen Philosophen«.


bor/dpa