Brisanz | Haft in Algerien: Die Machthaber provoziert

Aufgrund seiner Meinung wurde der Schriftsteller Boualem Sansal in Algerien eingesperrt. Was steckt hinter den umstrittenen Thesen des Autors zur Geschichte Algeriens?


Der franko-algerische Schriftsteller Boualem Sansal

Foto: Joel Salget/AFP/Getty Images


Schriftsteller müssen nicht, aber können Historiker sein wie zum Beispiel die Franko-Algerierin Assia Djebar es war. Wenn Schriftsteller keine Historiker sind, sollten sie sich auch nicht als solche betätigen oder gar instrumentalisieren lassen. Und Staaten wiederum sollten darin keinen Grund sehen, einen solchen Schriftsteller in Untersuchungshaft zu stecken – so geschehen dem franko-algerischen Autor Boualem Sansal (Der Schwur der Barbaren), als er am 16. November nach Algerien heimkehren wollte.

Als Kritiker des Islamismus und der Staatsbürokratie, die es sich mit der Erdölrendite bequem macht, sind seine Romane auch dem deutschen Lesepublikum bekannt. Und er war – nach Djebar im Jahr 2000 – der zweite algerische Autor, der 2011 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Die wegen angeblicher Verletzung der Sicherheitsinteressen des Staates erfolgte Verhaftung Boualem Sansals ist insofern unverhältnismäßig, als es leicht gewesen wäre, ein öffentliches Podium zu organisieren, wo er in der Diskussion mit anderen Intellektuellen von der schrägsten seiner Thesen vielleicht sogar abgerückt wäre.

Worum ging es aber? Sansal hatte in einem Interview der Zeitung Frontières, die der französischen Rechten zuzuordnen ist, gesagt, große Teile des algerischen Westens hätten historisch zu Marokko gehört. Diese manchmal mit konkreten Gebietsforderungen verbundene Ansicht wird in bestimmten marokkanischen Milieus vertreten und hatte 1962, kurz nach der vom damaligen König unterstützten Unabhängigkeit Algeriens, zu einem blutigen bewaffneten Konflikt geführt.

Zusätzliche Brisanz haben Sansals Erklärungen, weil sie auch die Anerkennung der Marokkanität der Westsahara betrafen, die der französische Präsident Emmanuel Macron vor Kurzem verkündet hat – entgegen der Position der UNO und der Europäischen Union.

Dieser Schritt, den Macron mit einer Reise nach Marokko bekräftigte, hat die Beziehungen mit Algerien extrem verschlechtert. Doch wie sehen die historischen Fakten aus? Es ist daran zu erinnern, dass sich sowohl die Stämme hinter den heutigen Grenzen im Süden wie im Osten als unabhängig und nicht tributpflichtig betrachteten. Das schloss nicht aus, kurzzeitig in Abhängigkeit des Königreichs zu geraten oder sich mit ihm zu verbünden. Eine virtuelle Begrenzung marokkanischer Macht entstand bereits mit der 1509 beginnenden spanischen Herrschaft über das westalgerische Oran und der darauffolgenden der Osmanen.

Durchlässige Grenzen

Der renommierte Historiker Benjamin Stora, der im Auftrag Macrons eine offizielle Darstellung des Algerienkrieges verfasst hat, die der Verständigung dienen sollte, verwies in französischen Auseinandersetzungen um Sansals Äußerungen darauf, dass der aus Westalgerien stammende Emir Abd el-Kader das erste nationale Stammesbündnis gegen die 1830 einsetzende Kolonisierung schmiedete. Er widerstand bis 1847 und geriet schließlich durch marokkanischen Verrat in französische Gefangenschaft.

Hinzuzufügen ist, dass er als junger Mann jahrelang kämpfen musste, um vom türkischen Bey in Oran – und nicht vom marokkanischen König – die Erlaubnis für die Pilgerreise nach Mekka zu bekommen, was damals ein politisches Privileg war.

Abd el-Kaders militärischer Bezwinger, Marschall Thomas Bugeaud, besiegte auch ein marokkanisches Heer am heutigen Grenzort Magnia und trennte lang zuvor bestehende Einflusssphären mit ersten Grenzpfählen. Stora verwies auch auf Messali Hadj, der die algerische Nationalbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte. Er stammte aus Tlemcen, der Stadt, der am häufigsten „Marokkanität“ unterstellt wird.

Sansals Äußerungen erklären sich vielleicht daraus, dass sein Vater als in Marokko politisch Verfolgter nach Algerien kam. Auch die Menschen in den Grenzregionen, zwischen denen kulturelle und familiäre Bande bestehen, wünschen sich eine durchlässige Grenze, aber keinen Territorialkonflikt. Weshalb sich nicht nur das Regime von Sansal provoziert fühlt.