Briefmarken: Zehn Facts droben Philatelie, die „Aktie des kleinen Mannes“

A

wie Aktie

Briefmarken werden mal ein kleines Vermögen wert sein. Dachten wir damals. Mein slowenischer Großvater hütete sein Einsteckalbum wie einen Schatz. Neue Sondermarken kauften die Eltern mir sofort am Ausgabetag im Dorfpostamt. Mein Taschengeld ging ohnehin fast vollständig ins Hobby. 40 Jahre später ist meine Sammlung nichts mehr wert, nicht mal 100 Euro. Und wer wollte sie mir überhaupt abkaufen? Mangels Nachwuchs hat sich die Philatelie erledigt, ist obsolet geworden, Sammlervereine sterben mit ihren Mitgliedern aus, eine ganze Infrastruktur bricht zusammen (→ Händler). Höchstens alte Marken bringen auf Auktionen noch Geld, wenngleich weniger als früher. Doch rare Sammlerstücke wie der Schwarze Einser waren für ein Arbeiterkind außerhalb jeder Reichweite. Was wir als solide „Aktie des kleinen Mannes“ betrachteten, wer fleißig sammelte, sicherte sich damit sein Altenteil, erwies sich als Fehlspekulation sondergleichen. Mein persönlicher Briefmarken-Bankrott.

B

wie Briefe

Ich habe noch edles Briefpapier samt schöner Umschläge in der Schublade, vor rund einem Vierteljahrhundert in England gekauft. Aber, wie alle, schreibe ich keine Briefe mehr. Auch aus Scham darüber, wie ungelenk meine Handschrift inzwischen mangels Übung geworden ist. Im Postkasten liegen nur noch Rechnungen, Behördenschreiben, Werbung, alles mit Stempelfreimachung. Schade. Briefumschläge, der Philatelist nennt sie „Ganzsachen“, erfreuen sich nämlich unter Sammlern einer steigenden Beliebtheit. „Social Philately“ heißt der neue Trend: Man interessiert sich insbesondere für die Postgeschichte, die Kultur der damaligen Zeit, die historischen Hintergründe und den (sofern noch vorhanden) Inhalt einer Postsendung. „Die Marke schweigt, der Brief schreit“, lautet das Motto der Social Philately, die das Sammeln mit Kulturgeschichte verbindet.

D

wie Devisen

In der DDR war der Handel mit Postwertzeichen aus dem Dritten Reich ab dem Jahr 1958 verboten aufgrund ihrer „faschistischen, antidemokratischen oder antihumanistischen Natur“. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Wie ließe sich besser die Überlegenheit des Sozialismus beweisen, als die westdeutschen Klassenfeinde harte West-Devisen für all die Hakenkreuze und Hitler-Konterfeis zahlen zu lassen? Daher gründete man den VEB Philatelie Wermsdorf, an den ostdeutsche Sammler und Händler ihren illegal gewordenen Bestand zwangsverkaufen mussten. Auch Sammlungen von Republikflüchtlingen flossen dem VEB Philatelie Wermsdorf zu. Nazi-Briefmarken waren ein wahrer Exportschlager: Unter der Ägide des gewieften Alexander Schalck-Golodkowski nahm die DDR insgesamt mehr als zwei Milliarden DM damit ein. Und auch → Händler in der BRD verdienten beim Weiterverkauf gut an Hitler. Heute produziert man in Wermsdorf Briefmarkenkalender mit DDR-Postwertzeichen.

F

wie Fälschungen

Fälschungen zu Propagandazwecken. Fälschungen zum Schaden der Post. Fälschungen zum Schaden der Sammler. Fälschungen über Fälschungen. Bei seltenen Briefmarken wird in Fachzeitschriften gebetmühlenhaft gewarnt: „Vorsicht, viele Fälschungen im Umlauf. Kauf nur mit Prüfsiegel empfohlen.“ Die Experten des Bundes Philatelistischer Prüfer enttarnen zwar häufig Fälschungen wie Fälscher – doch selbst deren Prüfsiegel und Atteste werden gefälscht. Es ist wie in der Kunst: gefälscht wird alles, was gefälscht werden kann. Besonders gewiefte Falschmünzer, wie der 1884 im toskanischen Pistoia geborene Giovanni de Sperati, er trug den ehrenden Beinamen „Rubens der Philatelie“, avancierten als schillernde Gentleman-Gauner gar zu Berühmtheiten (→ Louise Boyd Dale). Und selbstredend sind seine besten Fälschungen heute begehrte Sammlerstücke.

H

wie Händler

Mit der Philatelie sterben die Briefmarkengeschäfte. Als Kind erschienen sie mir wie Schatzkammern voller Kostbarkeiten, aus denen ich bei jedem Besuch ein billiges Prachtstück stolz heimtragen durfte. Warum manchmal deren Schaufenster voller Briefmarken mit Hakenkreuzen und Hitlerbildern (→ Devisen)waren, habe ich erst später begriffen. Nun verschwinden große wie kleine Händler von der Bildfläche. Das in der anbrechenden Nazizeit von einem Nazi gegründete Versandhaus Hermann E. Sieger aus Lorch etwa war ein veritabler Gigant der Philatelie. Die Firma bot Abo-Modelle oder weltweiten Neuheitenbezug an und war nicht zuletzt aufgrund der kostenlosen Zeitschrift Siegerpost allen Sammlern bekannt. Zu Silvester 2023 ging man in Liquidation. Ein paar unverzagte Ladengeschäfte stemmen sich gegen den Untergang, indem sie auf Münzen oder andere Sammelobjekte wie Ü-Eier-Inhalte umsatteln. Es wird nicht viel helfen. Das Geschäftsmodell Briefmarkenhandel hat sich erledigt, endgültig.

K

wie Kunstwerke

„Briefmarken entwerfen ist keine Kunst“, kommentierte der renommierte Designer Hans Günter Schmitz, dem wir einige der schönsten deutschen Postwertzeichen verdanken, sein Handwerk: „Es ist viel schwerer.“ Briefmarken nämlich sind klein, daher muss ihre grafische Komposition bis in Detail durchgearbeitet sein, um durch ein Mindestmaß an verwendeten Mitteln ein Höchstmaß an visueller Ausdruckskraft zu erzielen. Briefmarken sind kleine Kunstwerke. Miniaturbilder, die im Kleinen, aber keineswegs im Verborgenen wirken. Demokratische Objekte einer Alltagsästhetik, die dank millionenfacher Auflage zu erschwinglichen Sammelobjekten werden. Hergestellt werden sie in aufwendigen Druckverfahren, kaum anders als limitierte Lithografien aus dem Kunsthandel. Briefmarken sind mehr als → „Aktien“, sie sind die „Kunstwerke des kleinen Mannes“.

L

wie Louise Boyd Dale

Philatelie war eine Männerdomäne, immer schon. Frauen sind keineswegs unwillkommen, sondern lediglich desinteressiert. Die zweibändige Geschichte der Philatelie kennt keine bedeutende Sammlerin. Warum eigentlich? Schwer zu sagen. Auch ChatGPT findet keine Antwort. Doch immerhin gab es Louise Boyd Dale (1913 – 1967), die First Lady of Philately. Mit nur 14 Jahren hielt sie im exklusiven Collectors Club of New York ihren ersten philatelistischen Vortrag. Das Sammeln war der Tochter der philatelistischen Legende Alfred F. Lichtenstein, dem Mitgründer der amerikanischen Philatelic Foundation, quasi in die Kinderschuhe gelegt. Dale wurde aber schnell zu einer eigenständigen Sammlerin, nutzte ihre Kontakte in der eher elitären Szene und spezialisierte sich (→ Briefe) auf britische Kolonialgebiete und asiatische Länder. Keiner kannte sich bei französischen Freimarken der 1870er-Jahre so gut aus wie sie. Louise Dale starb viel zu früh, mit nur 54 Jahren. 1968 wurde sie als weltweit anerkannte Expertin posthum in die American Philatelic Society Hall of Fame aufgenommen.

M

wie Michel

Die Bibel der Philatelisten. Für Österreich ist der ANK (Austria Netto Katalog) zuständig, während man in der Schweiz dem Zumstein vertraut. Die DDR hatte den Lipsia. Im Westen gab es zwar noch den Philex und den DNK (Deutschland Netto Katalog), doch der Michel war und ist unangefochten der Primus inter Pares unter den deutschen Briefmarkenkatalogen. Hervorgegangen ist er aus den Preislisten der 1906 eröffneten Briefmarkenhandlung des Hugo Michel in Apolda. 1919 verkaufte Michel die Rechte an den Münchner Schwaneberger Verlag, der seitdem die bunten Kataloge mit detaillierten Informationen zu jeder Briefmarke veröffentlicht. Vier jährlich aktualisierte Kataloge erfassen sämtliche deutschen Marken. So unverzichtbar der Michel ist, so unzuverlässig sind seine Preisangaben. Es sind Richtwerte, die man nur zum Tauschen benutzen kann.

S

wie Stempel

Als „okkulten Teil der Marke“ hat Walter Benjamin, ein passionierter Philatelist, den Stempel bezeichnet. Quasi ein Brandmal, denn er entwertet das Postwertzeichen. Zugleich wird das papierne Massenprodukt durch die Abstempelung zum Unikum (→ Zeppelin). Der Stempel, als Frankatur, ist bekanntlich älter als die Briefmarken. 1813 führte die preußische Post Stempel in einfachster Form ein, die erste einheitliche Stempelnorm gab es bei der Reichspost ab 1931. Das hohe Alter des Stempels hat sich im englischen Wort für Postwertzeichen, „stamp“, erhalten. Dass Kaiser Wilhelm I. der Postverwaltung des Deutschen Reichs verbot, sein kaiserliches Angesicht auf Briefmarken abzubilden, lag, wie Ihre Majestät es ausdrückte, daran, dass seine Untertanen ihn nicht „von hinten belecken und von vorn bekloppen“, also abstempeln, dürften. Die DDR schuf 1978, anlässlich der Weltraumfahrt von Sigmund Jähn, dem ersten Deutschen im All, den „Interkosmosstempel“. Für uns Philatelisten ist es eine Gretchen- wie Glaubensfrage: Sammelt man postfrisch oder entwertet? Ich bin überzeugter Postfrischsammler!

Z

wie Zeppelin

Das zigarrenförmige Luftschiff des Grafen Zeppelin aus Friedrichshafen zählte zu den ikonischen Ingenieursleistungen der Weimarer Republik. Darin verkörperte sich das nationalistische Wunschbild technischer Überlegenheit der deutschen Kultur. Sehr begehrt war die Zeppelinpost: Bei den Überseefahrten nach New York und Chicago, Rio de Janeiro oder ans Nordkap gab es Bordpostämter, welche die beförderten Poststücke mit speziellen → Stempeln entwerteten. Die damalige Zeppelinpostmanie, angefeuert von der Sensationspresse, sorgte dafür, dass die Mehrheit der beförderten Postbelege von Sammlern stammten, die leere Umschläge an sich selbst verschickten. Zeppelinpostsammler subventionierten daher die Fahrten der Luftschiffe – bis zur Explosion der „Hindenburg“ im Mai 1937. Versengte Briefumschläge aus der „Hindenburg“ erzielen bis heute Höchstpreise.