Boualem Sansal: Noch gibt es Hoffnung

Der 80-jährige franko-algerische Schriftsteller Boualem Sansal ist heute Morgen vom Strafgericht von Dar El Beïda in der Nähe von Algier wegen seiner Äußerungen in einem Videointerview mit dem Pariser Medium Frontières zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Dem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels wurde zur Last gelegt, durch seine Darlegungen über die koloniale Geschichte des algerisch-marokkanischen Grenzverlaufs die „Sicherheit des algerischen Staates“ gefährdet zu haben. Offiziell verurteilt wurde Sansal heute laut der Zeitung Le Parisien wegen „Untergrabung der nationalen Einheit, Beleidigung des konstituierten Organs (der Armee), Schädigung der nationalen Wirtschaft und Besitz von Videos und Publikationen, die die nationale Sicherheit und Stabilität bedrohen“.

Boualem Sansal war bei seiner Einreise nach Algerien am 16. November 2024 auf dem Flughafen von Algier verhaftet worden und befindet sich seither in Haft. Der bekannte französische Menschenrechtsanwalt François Zimeray, der ihn vertritt, erhielt bisher kein Visum, um seinen Mandanten zu besuchen. Sansal wurde in der Haft darüber hinaus nahegelegt, sich einen nicht jüdischen Anwalt zu suchen. Daraufhin trat der an Krebs erkrankte Autor für einige Tage in den Hungerstreik, den er jedoch auf Anraten seiner Ärzte wieder einstellte. In dem Schnellgerichtsverfahren verteidigte der Autor sich selbst und beteuerte, in dem Pariser Interview nur seine Meinung geäußert zu haben. Algerien habe er nicht schaden wollen.

Zimeray forderte nach dem Urteil die sofortige Begnadigung des erkrankten Schriftstellers. In einer Nachricht an ZEIT ONLINE schrieb der Pariser Anwalt: „Eine grausame Inhaftierung, eine zwanzigminütige Anhörung, das Verbot der Verteidigung und schließlich fünf Jahre Gefängnis für einen unschuldigen Schriftsteller: Dieses Urteil verrät den Sinn des Wortes Gerechtigkeit. Das Alter und der Gesundheitszustand Sansals machen jeden weiteren Tag der Haft noch unmenschlicher. Ich appelliere an den algerischen Präsidenten: Die Gerechtigkeit hat versagt, lasst wenigstens die Menschlichkeit siegen.“ Auf die Frage von ZEIT ONLINE, welche nächsten Schritte zur Befreiung des berühmten Autors nun folgen sollen, antwortete Zimeray: „Ich werde abwarten, ob die algerische Regierung so intelligent sein wird, Boualem Sansal zu begnadigen.“

Wie groß sind die Chancen auf eine Begnadigung? Sansal ist ein Opfer der aktuellen erinnerungspolitischen Auseinandersetzung zwischen Algerien und Frankreich, die erneut entbrannt ist, seitdem sich Frankreich im Streit über Gebietsansprüche Marokkos in der Westsahara auf die Seite Marokkos gestellt hat. Präsident Macron hat den algerischen Präsidenten im Vorfeld des Urteils um Milde gegen den kranken Autor gebeten. Noch im Dezember hatte der algerische Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune jedoch gegen Macron verlauten lassen: „Sie schicken einen Betrüger, der seine Identität nicht kennt, seinen Vater nicht kennt und mit der Behauptung daherkommt, die Hälfte Algeriens gehöre zu einem anderen Staat.“

Der algerische Autor Kamel Daoud, der Anfang März zu einer Solidaritätslesung für Boualem Sansal ins Deutsche Theater nach Berlin gekommen war, äußerte die Vermutung, der algerische Staat wolle durch seine Härte gegen Sansal eine doppelte Botschaft überbringen. Er wolle Frankreich gegenüber Unbeugsamkeit signalisieren, und er wolle jungen algerischen Autoren zeigen, dass die Zeit für Debatte und frankophone Kultur in Algerien vorbei sei. Der französisch schreibende Daoud befindet sich seit zehn Jahren im französischen Exil. Sein Freund Sansal, der vor Kurzem auch die französische Staatsbürgerschaft angenommen hat, war vor seiner Verhaftung gerade dabei, seinen Wohnsitz in die Nähe von Paris zu verlegen.

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie zeigt sich über eine mögliche Begnadigung Sansals verhalten optimistisch. Es sei durchaus möglich, schrieb er am Vortag des Urteils im Magazin Perlentaucher, dass auf die schnelle Verurteilung bald eine Begnadigung und Abschiebung folgen werde. Auf diese Weise hätte Algerien sein Gesicht gegenüber Frankreich zwar gewahrt, anschließend aber doch einem „Deal auf Augenhöhe“ zugestimmt. Das wäre auch ein Erfolg für die Normalisierung der äußerst angespannten franko-algerischen Beziehungen. So gibt es vielleicht doch noch Hoffnung für den seit vier Monaten inhaftierten kranken Schriftsteller.