Biodiversität: Jede dritte Art in Deutschland gefährdet

Die Wirtschaft wird immer stärker mit Risiken durch den Verlust biologischer Vielfalt konfrontiert. Der Zusammenbruch von Ökosystemen zählt mittelfristig zu den größten globalen Herausforderungen. Erstmals gibt es nun auch ein umfassendes Lagebild zur Biodiversität in Deutschland. Die Großstudie, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wurde, bestätigt die alarmierenden Ergebnisse einzelner Untersuchungen: Es steht nicht gut um die Natur hierzulande.

Sechzig Prozent der natürlichen und naturnahen Lebensräume, die nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) zu schützen sind, befinden sich in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Rund ein Drittel der untersuchten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten sind vom Aussterben bedroht oder in ihrem Bestand gefährdet. Die Populationen von Vögeln in der freien Landschaft ist in knapp 40 Jahren um mehr als die Hälfte zurückgegangen.

Artenreiche Ökosysteme stabiler und leistungsfähiger

Auch für die Zukunft sieht es in vieler Hinsicht düster aus. Nahezu 70 Prozent wertvoller Biotope wie artenreiche Äcker, Hochmoore und feuchte Grünflächen gelten als langfristig gefährdet, 80 Prozent davon zeigen eine negative Entwicklungstendenz. Das sind einige Kernaussagen des „Faktenchecks Artenvielfalt“, der am Montag veröffentlicht wurde. Wissenschaftler aus knapp 80 Institutionen haben den Wissensstand zur Biodiversität in Deutschland sowie Empfehlungen zur Bewahrung und nachhaltigen Nutzung biologischer Vielfalt auf rund 1100 Seiten zusammengetragen.

Noch recht wenig weiß man darüber, wie sich Änderungen der biologischen Vielfalt auf sogenannte Ökosystemleistungen auswirken, also auf den Nutzen der Natur für den Menschen, etwa zur Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser. Eine umfassende Bilanz sei bislang nicht möglich, heißt es in der Studie. Ob bereits die aktuellen Verlustraten an ökologischer Vielfalt die Leistungsfähigkeit der Ökosysteme schmälerten, könne derzeit „nicht mit Sicherheit gesagt werden“, schreiben die Autoren.

Experimente und gezielte Beobachtungen im Freiland belegten aber für Deutschland und Mitteleuropa, dass artenreiche Ökosysteme stabiler und leistungsfähiger seien als artenarme Systeme. Erwiesen sei außerdem, dass biologische Vielfalt dem Klimaschutz diene, weil artenreiche Ökosysteme mehr Treibhausgase speichern könnten. Außerdem fördere biologische Vielfalt nachweislich den Erosionsschutz, die Gewässerreinigung oder die Bestäubung von Pflanzen.

Wie viel kann technologischer Fortschritt bewirken?

Soweit es Kennziffern der biologischen Vielfalt und ihrer Leistungen gebe, müssten diese in Gesamtbilanzen von Volkswirtschaften und Unternehmen berücksichtigt werden, fordern die Wissenschaftler. Eine ökologisch-ökonomische Berichterstattung sei eine „wichtige Basis für politische Entscheidungen und Unternehmenssteuerung“. Positiv bewertet werden auch Rechtskonstruktionen wie eigene Rechte der Natur, die neue Klagemöglichkeiten gegen den Biodiversitätsverlust schaffen könnten.

Aber fehlende Instrumente für den Naturschutz sind eigentlich nicht das Problem. „Wir haben in Deutschland und auch auf der europäischen Ebene im Grunde alle Instrumente, die wir brauchen“, sagte der Biologe und Studienmitautor Helge Bruelheide von der Universität Halle zur Vorstellung des Faktenchecks Artenvielfalt. Doch seien rechtliche und auch förderpolitische Instrumente teilweise nicht gut aufeinander abgestimmt. Auch mangele es an konsequenter Umsetzung naturschutzrechtlicher Vorgaben. Vor allem aber werde deren potentielle Wirkung „stark eingeschränkt“ durch gegenläufige politische Maßnahmen, etwa auf den Feldern Energie, Verkehr, Landwirtschaft, heißt es in der Studie.

Zwiespältig fällt die Bewertung der Autoren zum Potential technischer Innovation aus. Bislang hätten sich wirtschaftlicher und technologischer Fortschritt häufig negativ auf die biologische Vielfalt ausgewirkt. Aber es gebe auch ermutigende Entwicklungen wie geprüfte Zertifizierungssysteme, digitale Anwendungen in der Landwirtschaft, etwa zur Steuerung von Düngung, oder Innovationen in der Landwirtschaft wie die Produktion von Dämmstoffen. „Viele neue Technologien sind jedoch noch in der Erprobung, und es ist ungewiss, inwieweit sie dem Verlust der biologischen Vielfalt entgegenwirken können“, geben die Autoren zu bedenken.

Viel Potential für „Wirtschaften mit der Natur“

Naturverträgliches Wirtschaften ist nach Darstellung der Autoren möglich, allerdings kaum unter den aktuellen Rahmenbedingungen. „Am vielversprechendsten für die biologische Vielfalt über alle Lebensräume hinweg ist die Extensivierung der Land-, Gewässer- und Meeresnutzung“, lautet eine ihrer Kernaussagen.

Auch das Potential für „Wirtschaften mit der Natur“ sei aber noch längst nicht ausgeschöpft. Durch mehr Vielfalt bei Pflanzenarten und auch größere genetische Diversität lasse sich die Produktion von Agrarflächen ebenso wie die der Wälder unter wechselnden Umweltbedingungen aufrechterhalten. Damit lasse sich auch das Ziel der EU-Biodiversitätsstrategie erreichen, auf 30 Prozent der Landfläche vorrangig die biologische Vielfalt zu schützen. Das werde man kaum schaffen, wenn man nur darauf setze, streng geschützte Gebiete auszuweiten.