Bibliophilie: Längen, unglaubwürdige Figuren, öde Landschaftsbeschreibungen
Lesen ist besser als Sex. Das behauptet Chris Kraus in I
Love Dick, und zwar weil „Lesen
hält, was Sex zwar verspricht, doch kaum je einlösen kann – größer zu werden,
weil man die Sprache einer anderen Person betritt, ihre Kadenz, ihr Herz und
ihr Denken“.
Stellt sich die Frage, warum Sex dieses Versprechen
selten einlöst. Vielleicht weil die Kadenz einer anderen Person zu betreten
nicht automatisch erweiternd ist, sondern oft auch ungeheuer anstrengend,
verwirrend, ermüdend. Weil diese Kadenz, trotz des Begehrens, das sie in mir
weckt, einen ganz anderen Rhythmus hat als meine und so statt Harmonie erst
einmal Dissonanz erzeugt, mich stolpern lässt, aus dem Konzept bringt. Sie
verlangt mir ab, mich auf Fremdes einzustellen, mich also umzustellen,
anzupassen. Aber ist es mit dem Lesen wirklich so anders?
Mit Lesen meine ich: ein Buch lesen. Ob auf dem E-Reader
oder als Druckexemplar, ein ganzes Buch von vorn bis hinten. Im Unterschied
zum Herumscrollen im Netz, Texte anklicken, überfliegen, Texte mit
Lesedauerangaben wie Warnhinweisen. So wie Kraus mit ihrem Vergleich auch nicht
Gelegenheitssex meint, bei dem es in den seltensten Fällen um den Wunsch geht,
sich in das Herz und das Denken einer anderen Person Eintritt zu verschaffen,
meine ich das Sich-Einlassen auf ein längeres Werk, das ich ins Zentrum meiner
Aufmerksamkeit rücke, ohne vorher zu wissen, wie gut wir uns verstehen werden.
Die Verheißung, dass mir dadurch etwas Neues, Aufregendes eröffnet wird, das
mich expansiver machen könnte, geht mit der Herausforderung einher, meine Perspektive
in der Schwebe zu halten, während ich eine andere ausprobiere und meine dadurch
verunsichern lasse. „Wer nie versucht hat, die bisherige Form des eigenen
Denkens abzustreifen, der ahnt nicht, wie kalt einem dabei werden kann“,
beschreibt Veronika Reichl in Das Gefühl zu denken, ihrem Buch über das
Lesen von Theorie, diese Herausforderung.
Und so ist es tatsächlich wie mit der Liebe: Wenn ich
diesem konkreten Buch mein Jawort gebe, muss ich meine eigenen
Selbstverständlichkeiten zur Disposition stellen und ich muss mich mit seinen
Schrulligkeiten und Unliebsamkeiten arrangieren. Vielleicht stand es schon
länger im Regal und hat mir immer wieder verführerisch zugezwinkert und jetzt
ist es endlich dran und … ganz so hatte ich es mir dann doch nicht
vorgestellt. Es gibt Längen, es gibt Seiten ohne Zeilenumbrüche, die das Herz
beim Umblättern verzagen lassen. Es gibt Argumentationsstränge, denen man nicht
folgen kann oder will, Figuren, an die man nicht glaubt,
Landschaftsbeschreibungen, bei denen die Gedanken abschweifen, vielleicht zum
Regal schielen, wo mir ein anderes Buch lasziv seinen Einband zeigt. Vielleicht
würde dieses andere Buch tatsächlich gerade besser zu mir passen? Ein mir
bekannter Literaturwissenschaftler ist von solchen Verführungsversuchen seiner
Bücher derartig gereizt, dass er sie in verschlossenen Schränken verstaut, wo
er sie nicht sehen muss und sie ihn nicht sehen können. Andere erliegen
bereitwillig der Versuchung und lesen mehrere Bücher parallel. Eine solche
Promiskuität würde mich überfordern – außer bei Erzählungen und Lyrik, wo das
häppchenweise Lesen, das Herumflattern von einem Text zum anderen, wie von
einer Affäre zur nächsten, von der Form quasi vorgeschrieben ist. Aber
grundsätzlich geht es mir um die Hingabe und die Exklusivität. Und so finde ich
mich in Beziehungen mit Büchern wieder, die nicht immer nett zu mir sind. Oder einfach
sehr lang sind und sich ständig wiederholen, wie etwas Klaus Theweleits Männerfantasien
oder Miguel de Cervantes‘ Don Quixote, beides Bücher, die ich sehr
schätze, in denen ich mich monatelang aufgehalten habe, von ihnen inspiriert,
verblüfft und erschüttert wurde, die mich zum Lachen gebracht haben und mich
vor Ungeduld zappeln ließen, mich so vereinnahmt haben, dass ich sämtliche
Fußnoten gelesen (Theweleit) und rivalisierende Übersetzungen verglichen
(Cervantes) habe. Und bei beiden habe ich in regelmäßigen Abständen seufzend
festgestellt, dass noch gut zwei Zentimeter bibeldünn gedruckte Seiten zu lesen
waren.
Flashbacks an das Leiden in meinem Kinderbett, 781 Seiten
David Copperfield von Charles Dickens, meine Eltern erzogen nach der
Devise: Hohe Ziele wecken den Ehrgeiz. Ich war zehn. Und so brav, dass ich jede
Seite und jeden Satz las. Mit dem Finger maß ich dann Abend für Abend, bevor
ich das Buch weglegte, wie viel dieser Wortwüste noch vor mir lag. Ich erinnere
mich nicht mehr, wie es mir ging, als ich sie bewältigt habe, bei Männerfantasien
und Don Quixote habe ich mich als Heldin gefühlt. Weil Monogamie, auch
serielle, Superkräfte braucht: Wiederholungstoleranz, einen langen Atem, einen
Optimismus, dass es besser werden könnte.
W. G. Sebald hat einmal gesagt, dass Bücher per definitionem eine apokalyptische Struktur haben, weil man als Lesende im Sog des Ans-Ende-kommen-Wollens ein negatives Gefälle hinabsteige, ein Sein-zum-Tode sozusagen. Wie eine Ehe, die auch von ihrem Ende her gedacht wird („Bis dass der Tod euch …“). Und die auch nicht ohne ihre Antithese der Freizügigkeit existieren könnte (Treueschwüre), denn das setzen wir dem Tod entgegen, wenn auch nur als Fantasie: mit ganz vielen hintereinander oder parallel und dann gleich weiter zum nächsten. „Jedes Mal“, schreibt Kraus, „wenn ich in eine Bibliothek gehe, kriege ich einen Rausch wie beim Sex.“ Und weiter: „Mein Gehirn wird ganz cremig vor lauter assoziativen Gedanken.“
Auch für mich ruft jedes Buch, vor allem die guten, nicht
nur das nächste, es ruft ganze Bibliotheken auf den Plan, eine potenzierte
Intertextualität wie in einer Borges-Erzählung. Das kann nicht nur rauschhaft,
sondern auch erschlagend sein. Als ich mit Mitte 20 in der Bibliothek des
Centre Pompidou in Paris stand, die Magazinschluchten vervielfältigten sich auf
den Etagen, die über das offene Atrium in die Höhe reichten, verspürte ich den
dringenden, fast körpersprengenden Wunsch, alles zu lesen. Daraufhin wurde mir
schlecht und ich machte kehrt, ohne auch nur einen Band in die Hand genommen zu
haben.
Man kann sich eben nur über ein Buch auf einmal beugen,
einen Satz auf einmal lesen. Und doch ist die Beziehung zu diesem einen Buch,
auch wenn ich für die Dauer der Lektüre alle anderen verschmähe (oder besser:
mir aufhebe), nach allen Seiten hin offen, ist immer potenziell polyamourös
beziehungsweise polyphob. Es war dieses mathematische Dilemma, das mich damals
in der Bibliothek verzweifeln ließ. Mittlerweile halte ich es besser aus, aber
die Spannung ist noch da: Wenn meine Gedanken beim Lesen abschweifen, ist es
oft zum nächsten Buch, und wenn ich mit dem aktuellen die Apokalypse erlebt
habe und wieder auferstehe, um das nächste, wonach ich mich schon beim letzten
gesehnt habe, endlich aufzuschlagen, bin ich in Gedanken schon beim übernächsten. Und je mehr man liest, desto länger wird die Liste der Bücher,
die man noch nicht gelesen hat. Bei manchen führt das zu dem Phänomen, wofür es
auf Japanisch einen Begriff gibt, Tsundoku: das Erwerben von
Büchern, die man nicht liest. Oder die zumindest lange warten müssen, bis man
zu ihnen kommt. Walter Benjamin zitiert in seinem Aufsatz Ich packe meine
Bibliothek aus den Schriftsteller Anatole France, der auf die Frage eines
„Banausen“ (Benjamins Bezeichnung), ob er denn alle Bücher in seiner
umfassenden Bibliothek gelesen hätte, trocken mit „Nicht ein Zehntel“
antwortete.
Bei mir sind es vielleicht zwei Drittel. Darüber hinaus
pflege ich eine immer länger werdende, momentan 13,5 Seiten lange Liste mit
Büchern, die ich noch nicht im Regal stehen habe und lesen möchte, alphabetisch
nach Autor:in, von Kathy Acker (alles außer Bis
aufs Blut) bis Émile Zola
(alles außer Das Glück der Familie Rougon, Nana, Das Paradies der Damen,
Germinal und Der Zusammenbruch). Von den Zolas, die ich schon habe,
sind noch zwei ungelesen. Gegenüber diesen und allen anderen ungelesenen
Büchern in meinem Besitz habe ich latente Schuldgefühle, die stärker werden,
wenn ich mir neue kaufe. Einmal träumte ich nach einem Buchkauf, dass sich ein
dickes Spinnennetz über meine Bücherregale gespannt hatte, an den Fäden
huschten Spinnen herum und woben emsig weiter an meiner Strafe.
Und irgendwann werde ich vor der Bücherwand stehen und es
wird klar sein, dass nicht mehr genug Lebenszeit da ist, um sie alle zu lesen.
Das wird dann die wahre Apokalypse.
Lesen ist besser als Sex. Das behauptet Chris Kraus in I
Love Dick, und zwar weil „Lesen
hält, was Sex zwar verspricht, doch kaum je einlösen kann – größer zu werden,
weil man die Sprache einer anderen Person betritt, ihre Kadenz, ihr Herz und
ihr Denken“.
Stellt sich die Frage, warum Sex dieses Versprechen
selten einlöst. Vielleicht weil die Kadenz einer anderen Person zu betreten
nicht automatisch erweiternd ist, sondern oft auch ungeheuer anstrengend,
verwirrend, ermüdend. Weil diese Kadenz, trotz des Begehrens, das sie in mir
weckt, einen ganz anderen Rhythmus hat als meine und so statt Harmonie erst
einmal Dissonanz erzeugt, mich stolpern lässt, aus dem Konzept bringt. Sie
verlangt mir ab, mich auf Fremdes einzustellen, mich also umzustellen,
anzupassen. Aber ist es mit dem Lesen wirklich so anders?