Berliner Volksbühne: Vorhang aufwärts zum Besten von die Totaltheaterparty! – WELT
Die Theatermacher Vegard Vinge und Ida Müller sollen vorübergehend die Berliner Volksbühne übernehmen. Wenn es so kommt, dann ist das eine sehr mutige Entscheidung von Kulturminister Joe Chialo. Denn das Duo steht für entgrenztes Extremtheater. Und das braucht es jetzt.
Eigentlich sollten Vegard Vinge und Ida Müller bereits vor drei Jahren mit René Pollesch an die Volksbühne kommen. Als Pollesch auf einer Pressekonferenz seine Pläne als neuer Leiter der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz vorstellte, kündigte er die Rückkehr des berühmt-berüchtigten Künstlerduos nach Berlin an. Vinge, der Norweger mit dem Ibsen-Knacks, sollte zwei Inszenierungen pro Spielzeit machen, erklärte Pollesch den sich vor Verwunderung die Augen reibenden Hauptstadtjournalisten, und Müller die Chefausstatterin nach dem Vorbild des verstorbenen Bert Neumann werden.
Doch Vinge und Müller kamen nie in Berlin an. Waren es Kommunikations- oder Vertragsschwierigkeiten? Man weiß es nicht, Pollesch hüllte sich in Schweigen. Und Vinge und Müller blieben in Norwegen, wo sie weiter ihre Ibsen-Exerzitien aufführten wie damals im Prater, als Frank Castorf sein Intendantenbüro noch mit einem Stalin-Porträt schmückte. Nun, viele Jahre später, sollen Vinge und Müller die Volksbühne aus der Krise führen. Nachdem Pollesch im Februar überraschend gestorben war, brauchte es dringend eine Idee für die Zukunft des legendären Theaters im Berliner Osten.
Was sich der Kultursenator Joe Chialo überlegt hat, konnte man in Ansätzen bereits im Sommer erkennen. Damals kündigte Chialo an, dass die neue Leitung ausgeschrieben wird. Allein das war ein für Berliner Kulturpolitik fast unerhörter Akt von Transparenz. Die größere Überraschung war, dass der Amtsantritt für das Jahr 2027 festgelegt wurde, also trotz der schwierigen Situation keine Abstriche bei der Vorbereitungszeit gemacht werden sollen (weil viele Künstler Verträge zwei Jahre im Voraus abschließen, ist diese Zeit mindestens benötigt, um die Übernahme eines Hauses vorzubereiten).
Bleiben die drei Jahre, bis jemand Neues kommt. Das ist zu kurz, um eine Ära zu prägen. Und zu lang, um nur das Repertoire zu verwalten. Also genau die richtige Zeitspanne für einen kleinen Tanz auf dem Vulkan. Man kann diese Interimsintendanz wie eine Carte blanche begreifen, die an die Zeit in den frühen 1990ern erinnert. Damals war unklar, ob die Volksbühne sich behaupten kann oder geschlossen wird. Als man das Haus einem jungen Wilden namens Castorf gab, soll Ivan Nagel gesagt haben, dass die Volksbühne in drei Jahren entweder berühmt oder tot sei. Und so ist es heute tatsächlich wieder.
Es ist zu früh, um zu spekulieren, was Vinge und Müller mit dem Haus am Rosa-Luxemburg-Platz vorhaben. Nach einem Bericht des „Tagesspiegels“ sind die Verträge zwar vorbereitet, aber noch nicht unterschrieben. Amtsantritt soll sofort, also unverzüglich sein. Angenommen, es kommt dazu, dürfte es jedenfalls keine künstlerisch uninspirierte und unprofilierte Zeit wie nach dem Dercon-Desaster unter dem Interimsintendanten Klaus Dörr werden. Vinge und Müller stehen für entgrenztes Extremtheater. Wohlmeinenden Einheitsbrei wird es mit dem Duo wohl kaum geben.
Gewagte Wette auf die Zukunft
Berühmt wurden Vinge und Müller mit einem durch alle Niederungen watenden 12-Stunden-Ibsen-Irrsinn. Zuletzt konnte man sie 2017 mit ihrem „Nationaltheater Reinickendorf“ in Berlin sehen. „Die irrsten Theatermacher der Welt sind wieder da“, hieß es damals in dieser Zeitung, dagegen sei Castorf „bieder“ und Pollesch „bemüht witzelnd“, berichtete ein überwältigter Rezensent. Seitdem, auch das macht das Spekulieren schwierig, hat sich ihre weitere künstlerische Entwicklung im fernen Norwegen vollzogen. Die Ibsen-Obsession scheint aber weiter aktuell zu sein.
Was man sich für die nächsten drei Jahre vorstellen könnte, wäre eine Mischung, die das Haus vollmacht. Da sind zum einen die alten Pollesch-Stücke, die man einfach gesehen haben muss, bevor sie für immer von der Bühne und aus der Welt verschwinden (das Nachspielen seiner Stücke hat Pollesch nämlich untersagt). Zum anderen arbeiten mit Constanza Macras und Florentina Holzinger bereits Leute am Haus, die mit ihren Diskurstanzstücken und Nacktspektakeln den Nerv der Gen-Z-Großstadtjugend treffen. Und dann kommen noch Vinge und Müller mit neuen Impulsen. Das hat Potenzial.
Wenn man jemanden zutraut, den alten Volksbühnen-Geist wieder zum Leben zu erwecken und eine drei Jahre dauernde Totaltheaterparty zu feiern, dann Vinge und Müller. Die Berliner Kulturpolitik hat in den vergangenen Jahren selten mit mutigen Entscheidungen von sich reden gemacht, das aber könnte eine solche gewagte Wette auf die Zukunft sein, die sich am Ende auszahlt. Man weiß ja, wie es damals mit Castorf ausging. Nach drei Jahren war die Volksbühne berühmt und Castorf am Ende ganze 25 Jahre im Amt. Zumindest den ersten Schritt könnten Vinge und Müller nun gehen.
Source: welt.de