Benjamin Netanjahu und die Hamas sollen aufhören, mit Menschenleben zu spielen

Jüngste Wendungen in den Verhandlungen über ein Kriegsende in Gaza erscheinen labyrinthisch und verwirrend. Tatsächlich ist es nicht so kompliziert, wie es den Anschein hat. Benjamin Netanjahu muss Kompromisse bei noch ausstehenden Details eines Waffenstillstandsvertrages eingehen und die rücksichtslosen Militäraktionen in den von Flüchtlingen bevölkerten Gebieten um Rafah sofort stoppen. Die Hamas ihrerseits sollte das Feilschen darüber aufgeben, wie viele und welche palästinensischen Häftlinge im Gegenzug für die Freigabe israelischer Geiseln zu entlassen sind. Ihre Priorität müsste klar darin bestehen, die Not der Gaza-Bevölkerung zu lindern, und nicht darin, Punkte zu sammeln. Stattdessen wird offenbar auf einer Unterscheidung zwischen noch lebenden und toten Geiseln beharrt. Aus Hamas-Sicht ist die Freilassung einer lebenden Geisel „mehr wert“ als die Rückgabe einer toten, gemessen an der Zahl palästinensischer Gefangener, die israelische Gefängnisse verlassen können.

Streit zwischen Ismail Haniyya und Yahya Sinwar?

Hamas-Exilführer Ismail Haniyya, der sich gern mit Leuten wie dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan unterhält, soll mit Yahya Sinwar, dem Hamas-Führer im Gazastreifen, darüber streiten, ob es ein bedingungsloses Ende des Krieges geben soll oder nicht. Die Forderung der Hamas, dass Israel zu diesem Zeitpunkt einer dauerhaften Waffenruhe zustimmt, erschien indes stets wenig realistisch.

Gleiches gilt für Netanjahus Position, dass der einzig wahre Maßstab für den Sieg die völlige Zerstörung der Hamas sei. Dieses praktisch unerreichbare Ziel ist das größte Hindernis für den Frieden. Damit steckt Netanjahu in einer Falle, die er sich selbst gestellt hat. Sie zwingt ihn, eine endlose Schlacht zu führen. Sobald er davon abrückt, käme das einem Eingeständnis gleich, den proklamierten Zweck der Operation Gaza nicht erreicht zu haben und gescheitert zu sein. Sein Sturz wäre dann nur noch eine Frage der Zeit.

Daher sind anhaltende Kämpfe Netanjahus bevorzugte Wahl. Er befürchtet, selbst eine befristete Feuerpause beschleunige seinen Fenstersturz als Premier und eine Verurteilung vor Gericht wegen verschiedener Korruptionsvergehen. An der Macht ist er geschützt, aber er hat keine Energie mehr und ist am Ende. Es gibt mächtige Leute wie Benny Gantz, seit Monaten Mitglied im Kriegskabinett, und Oppositionsführer Yair Lapid, die ihn zu Neuwahlen zwingen könnten. Doch gerade die Aussicht, dass es dazu kommt, ist ein weiterer Anreiz für Netanjahu, nicht zu weichen.

Ohne Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir

Wahlen hätten den Vorteil, Israel – vielleicht – von einer nicht repräsentativen rechtsextremen Koalition zu befreien, die von extremistischen, ultraorthodoxen Zionisten wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir getragen wird. Soeben bestand Letzterer darauf, dass nichts Geringeres als eine „völlige Kapitulation“ der Hamas geboten sei. Allein die Tatsache, dass sich Netanjahu von solchen Eiferern abhängig machte, ist Grund genug, ihn zu stürzen. Auch weil der internationale Ruf Israels in Trümmern liegt, wie das augenblicklich der Fall ist. Die Massentötungen von Zivilisten im Gazastreifen durch die israelischen Streitkräfte seit Oktober haben entscheidend dazu beigetragen. An diesem kritischen Punkt, an dem die Hoffnung auf Frieden oder zumindest auf ein Ende des Tötens auf dem Spiel steht, agieren die USA – die bei Weitem einflussreichste externe Konfliktpartei – weiter viel zu vorsichtig. Bidens Weigerung, Netanjahu in der Gaza-Frage hart zur Rede zu stellen, hat die Katastrophe erst recht heraufbeschworen.

Wie der israelische Regierungschef haben auch die Hamas-Führer eine Verantwortung, die über ihre selbstsüchtigen Interessen hinausgeht. Es ist an der Zeit, dem gerecht zu werden. Wenn sie dazu nicht in der Lage sind, sollten sie beschämt den Kopf senken.

Simon Tisdall ist Guardian-Kolumnist