Bei diesen Erfindungen mischte Kollege Zufall kräftig mit
Viele wichtige Innovationen entstanden als Neben- oder gar Abfallprodukte bei Forschungsprojekten, die ursprünglich einen anderen Schwerpunkt gehabt hatten. Manche kamen durch puren Zufall in die Welt, waren Missgeschicke, die sich als Segen erwiesen.
Lügen haben kurze Beine. Bisweilen können diese aber in Siebenmeilenstiefeln stecken. Etwa dann, wenn es dabei um etwas geht, das die Leute nur allzu gerne glauben wollen, und das große Begehrlichkeiten weckt. Denjenigen, der die Flunkereien in die Welt gesetzt hat, kann dies in große Schwierigkeiten bringen.
Ein solcher Fall ereignete sich im Jahr 1701. Damals beendete der 19 Jahre alte Johann Friedrich Böttger seine Lehre bei dem Berliner Apotheker Friedrich Zorn. Während seiner Ausbildung entwickelte Böttger ein großes Faible für die Alchemie, machte Bekanntschaft mit Gleichgesinnten wie dem mysteriösen Laskaris, der sich als aus Griechenland stammender Alchemist ausgab. Laskaris habe ihn in die Geheimnisse des Goldmachens eingeweiht, sagte Böttger zu Zorn – der die alchemistischen Ambitionen seines Schülers aber zu Recht als pseudowissenschaftlichen Hokuspokus abtat.
Um seinen Meister zu überzeugen, führte Böttger vor ihm und drei weiteren Zeugen eine vermeintliche Umwandlung von Silber in Gold vor. Was heute als ein sicher effektvoller, aber eben eine Goldherstellung nur schnöde vortäuschender Taschenspielertrick bewertet wird, überzeugte das damalige Publikum, elektrisierte es geradezu. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, in Berlin gebe es einen „Goldmacher“. Und weil auch der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. davon Wind bekam und Böttger ins Berliner Schloss zitierte, nahm Böttger, der nun jede Menge Ärger witterte, schleunigst die Beine in die Hand und floh nach Wittenberg.
Dort wiederum nahm ihn der sächsische Kurfürst August der Starke unter seine Fittiche und gewährte ihm Schutz – der sich allerdings als „goldener Käfig“ im doppelten Sinne entpuppte: August quartierte Böttger in streng bewachte Labore in Dresden und Meißen ein, wo dieser mit Kollegen und Mitarbeitern verlässliche Verfahren zur Goldherstellung entwickeln sollte. Erst bei Erfolg sollte der vermeintliche Goldmacher seine Freiheit wiederbekommen. In den folgenden Jahren führte Böttger etliche Experimente durch, wobei es ihm nie gelang, Gold künstlich zu erzeugen.
Aber dafür stieß Böttger bei seinen vielfältigen Versuchen mit dem Forscher Ehrenfried Walther von Tschirnhaus auf etwas anderes: Einen Weg zur Herstellung eines Materials, das zu dieser Zeit in Europa ähnlich begehrt war wie das Edelmetall: Porzellan, das „weiße Gold“. Seit Jahrhunderten war dies nur als sündhaft teure Importware aus Asien zu haben, wo das Geheimnis seiner Entstehung streng gehütet wurde. Jetzt konnte man es endlich selbst fertigen. 1710 entstand so in Meißen die erste Produktionsstätte für Porzellan in Europa. Bis heute hat das Meißner Porzellan mit seinem Markenzeichen der gekreuzten Schwerter Weltrang.
Doch nicht nur das europäische Porzellan, auch viele weitere Erfindungen entstanden als Neben- oder gar Abfallprodukte bei Projekten, die ursprünglich einen anderen Schwerpunkt gehabt hatten. Manche kamen durch puren Zufall in die Welt, „aus Versehen“. Darunter Utensilien zur Zubereitung der Speisen, die auf den Porzellantellern landen. Etwa der Mikrowellenherd.
Dessen Genese fand in der Forschungsabteilung des US-Rüstungs- und Elektronikkonzerns Raytheon Corporation statt. Dort experimentierte Ingenieur Percy Spencer mit Magnetronen (Vakuum-Laufzeitröhren zum Erzeugen elektromagnetischer Wellen im Mikrowellenbereich) für Radaranlagen. Zufällig hatte er dabei einen Schokoriegel in der Tasche und bemerkte, dass dieser durch die Mikrowellenstrahlung zu schmelzen begann. Das inspirierte Spencer zu weiteren Versuchen: Erst ließ er Popcorn aufploppen, dann brachte er ein Ei zur Explosion, dessen Flüssigkeit mitten im Gesicht eines Kollegen von Spencer landete.
1946 baute Spencer unter dem Codenamen „Speedy Weenie“ (womit ein schnell zubereitetes Hot Dog gemeint war) einen „Radarherd“. Dessen erste Version war noch ungleich wuchtiger als die heute gewohnten Mikrowellenherd-Formate – er wog hunderte Kilo und war knapp 1,80 Meter hoch. Ein knappes Jahrzehnt später war die Technologie so ausgereift und kompakt, dass sie zunächst in der Luftfahrt und in Großküchen eingesetzt wurde. Ab Mitte der 1960er wurden die Geräte immer erschwinglicher, sodass sie in den folgenden Jahrzehnten ihren Siegeszug in privaten Haushalten in aller Welt antraten.
Ein anderes weitverbreitetes Küchenutensil verdankt seine Existenz ebenfalls der militärischen Forschung: die Teflon-Pfanne. Deren ultra-glattes Material Polytetrafluorethylen (PTFE, bekannt unter dem Markennamen Teflon), an dem kaum etwas haften bleibt, fand seine erste Anwendung bei der Entwicklung der US-Atombombe. Auf der Suche nach einem Material mit Anti-Haft-Effekt wandten sich die Forscher des „Manhattan Projects“ 1943 an diverse Unternehmen und Forschungsinstitute, darunter der US-Chemiekonzern DuPont. Dort erinnerte man sich nun an den Stoff PTFE, auf den Mitarbeiter Roy Plunkett 1938 aus Versehen gestoßen war, und für den man bisher keine Verwendungsmöglichkeit gesehen hatte.
Damals wollte Plunkett aus dem Gas Tetrafluorethylen ein neues Kältemittel gewinnen. Eine Probe davon geriet zu einem weißen Feststoff, sie „polymerisierte“ zu einem Material von enormer Festigkeit, das alles abwies. Auf die Idee, es für Bratpfannen zu verwenden, kamen allerdings weder Plunkett noch die Atomforscher, sondern die Ehefrau des französischen Chemikers Marc Grégoire. Dieser beschichtete seine Angelschnur mit PTFE, damit sie nicht immer zu einem schwer entwirrbaren Knäuel verknotete. Colette Grégoire schlug daraufhin die Verwendung von PTFE in der Küche vor, 1954 wurde das Patent angemeldet.
Bleiben Essensreste in Teflon-Pfannen oder anderen Behältnissen zu lange stehen, kann sich darin Schimmel bilden. Was im Alltag lästig und eklig ist, erwies sich 1928 unverhoffterweise als ein Segen für die Menschheit. Damals forschte der Arzt Alexander Fleming am Londoner St. Mary‘s Hospital an Staphylokokken, wofür er die Bakterien auf Nährböden in Petrischalen ansiedelte. Eine solche blieb über die Sommerferien stehen, und als Fleming zurückkehrte, hatte sich Schimmel in der Petrischale gebildet. Überrascht stellte Fleming fest, dass sich der Nähe des Pilzes keine Bakterien mehr befanden.
Daraus schloss er, dass der Pilz „Penicilium notatum“ bestimmte Bakterien abtöten könne. 1929 veröffentlichte er einen Artikel über die Entdeckung des Wirkstoffs, den er „Penicillin“ nannte. Allerdings war die Substanz damals noch instabil und in reiner Form schwer herstellbar. Erst 1940 gelang es den Forschern Ernst Boris Chain, Howard Florey und ihren Mitarbeitern in Oxford, eine reine Form von Penicillin systematisch herzustellen. In der Folge entstand das Medikament, das bis heute unzähligen Menschen das Leben rettet. 1945 bekamen Fleming, Florey und Chain dafür den Nobelpreis für Medizin.
Ein anderes Medikament, das seit seiner Markteinführung im Jahr 1998 dutzenden Millionen Männern verschrieben wurde, ist unter dem Handelsnamen Viagra bekannt. Doch ursprünglich wurde die Substanz UK-92480 seit Anfang der 1990er von einem Forschungsteam um den Chemiker Simon Campbell in einem Labor des US-Pharmakonzerns Pfizer in England entwickelt, um den Blutdruck zu senken und Herzprobleme zu lindern. Das funktionierte aber nicht, wie Feldversuche ergaben. Stattdessen wurde aber eine interessante Nebenwirkung entdeckt, woraufhin Pfizer das Medikament für klinische Studien anmeldete – jedoch nicht als Blutdrucksenker, sondern als Potenzmittel.
Und wer Viagra verwendet, hat vielfach auch ein Kondom aus Gummi zur Hand. Letzteres Material verdankt seine Elastizität und Haltbarkeit dem Prozess der „Vulkanisation“. Auf diesen stieß der US-Unternehmer und Hobbyforscher Charles Goodyear im Jahr 1839 durch ein Missgeschick. Goodyear probierte damals Methoden aus, um Kautschuk unempfindlich gegen Hitze und Kälte zu machen, damit die Natursubstanz nicht mehr klebrig bzw. brüchig würde. Eine Schwefel-Kautschuk-Mixtur fiel ihm dabei versehentlich auf eine heiße Herdplatte – und endlich war der Kautschuk in vielfach verwendbares Gummi verwandelt. 1855 kreierte Goodyear das erste Gummi-Kondom, das noch eine Wandstärke von 2 Millimetern und eine Längsnaht hatte. Das Unternehmen Goodyear, bis heute einer der führenden Hersteller von Autoreifen, wurde bei seiner Gründung 1898 nach dem damals bereits verstorbenen Vater der Vulkanisation benannt.
Kollege Zufall mischt indes nicht nur bei Forschern und ihren Erfindungen mit. Unser aller Leben sind, neben den großen, wohldurchdachten Entscheidungen, auch in hohem Maße von Zufällen bestimmt. Und von scheinbaren Kleinigkeiten, flüchtigen Launen, über deren Tragweite man sich im jeweiligen Moment nicht unbedingt bewusst ist, die aber eine folgenschwere Kettenreaktion in Gang setzen können. Wenn sich die Koordinaten nur ein klein wenig verschieben, verpasst man ein entscheidendes Ereignis, und schon ist alles anders. Ein Faktor dabei ist vielfach auch das Wetter, im Kleinen wie im Großen. Etwa ein unerwarteter Regenguss, der eine Gartenparty ins Wasser fallen lässt und so eine wichtige Begegnung verhindert. Oder ein früher Wintereinbruch, der einen großen Feldzug zum Scheitern bringt und das darauffolgende Schicksal ganzer Völker beeinflusst. Oftmals haben Wetterkapriolen einen entscheidenden Einfluss auf historische Ereignisse gehabt. Doch das ist eine andere Geschichte, demnächst bei WELTGeschichte.
Wie technische Innovationen entstanden und das Leben der Menschen veränderten, hat Martin Klemrath schon in diversen Artikeln bei WELTGeschichte nachgezeichnet. Beispielsweise ist er der Frage nachgegangen, warum die amerikanische Computer-Maus gefeiert wurde, während die deutsche eine graue blieb.
Source: welt.de