Begräbnis all-inclusive: Alem Grabovacs „Die Gemeinheit jener Diebe“

Am Anfang stand ein beidseitiger Irrtum: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts glaubten die Deutschen, die Eingeladenen aus dem Süden würden nur kurz in ihrem Land bleiben – und diese selbst glaubten das auch. Da sie aus Ländern stammten, in denen die kulturelle Kodierung des Begriffs Gast einen hohen Stellenwert hat, traten sie wenig fordernd auf, in einem fremden Haus poltert man ja nicht. Das war in einer Zeit, als unqualifizierte Arbeit noch stärker gebraucht wurde, aber auch bevor die Produktion unzähliger Dinge nach China und sonst wohin auswanderte. Der Begriff Arbeit hat seitdem einen historischen Wandel durchgemacht, genauso wie sich die Zuwanderung verändert hat. Das schüchterne Benehmen der Gäste wurde von Ansprüchen auf Gleichbehandlung ersetzt – trotz aller Unstimmigkeiten öffnet sich die deutsche Gesellschaft zunehmend dieser neuen Migrationsdynamik.

Während es für die Soziologie vorteilhaft ist, Begriffe präzise zu definieren, kann es für die Ästhetik irreführend sein, wenn man soziologische Begriffe auf die Literatur anwendet. Spätestens mit dem Georg-Büchner-Preis für Emine Sevgi Özdamar, mit dem Leipziger Buchpreis für Dinçer Güçyeter, dem Deutschen Buchpreis für Saša Stanišić oder, gerade, dem Bachmannpreis in Klagenfurt für Tijan Sila – um nur einige Beispiele zu nennen – ist deutlich geworden, dass die „Chamisso-Literatur“, die „Gastarbeiterliteratur“, die „Migrantenliteratur“ oder wie sonst diese Phänomene bezeichnet wurden, primär als „Literatur“ gelesen werden sollte. Und in der Literatur ist die Einmaligkeit jeder einzelnen Lebensgeschichte von entscheidendem Wert, ganz gleich, welche Gemeinsamkeiten eine soziologische Analyse zwischen ihnen finden kann.

Deutscher Autor mit Migrationshintergrund

Zum Beispiel auch Alem Grabovacs jüngster Roman Die Gemeinheit der Diebe, der eine Vertiefung und Erweiterung seines Debüts Das achte Kind darstellt. Grabovac, 1974 in Würzburg geboren, ist ein deutscher Autor mit Migrationshintergrund, der viel zu erzählen hat; bereits seine Einbürgerungsgeschichte stellt ein tragikomisches Abenteuer dar. In beiden Romanen erzählt er von sich und seiner Mutter Smilja – und in dieser Autofiktion entfaltet er eine berührende Mutter-Sohn-Geschichte.

Der Sohn zeichnet ein liebevolles Porträt seiner Mutter, wobei er an ihrem Umgang mit Männern genauso verzweifelt, wie er ihre Talente bewundert, etwa ihren Fleiß und ihre Geschicklichkeit in Finanzen, mit der sie sich sogar eine Eigentumswohnung in Frankfurt zu sichern wusste. Dass sie im Alter den Geist ihres serbischen Partners im Schrank imaginiert und einem kroatischen Hellseher verfallen ist, macht sie weiterhin zu einem neuralgischen Punkt im Leben ihres Sohns, den sie mehrfach verraten hat, weil sie dazu gezwungen war.

Ein Drittel der arbeitenden „Gäste“ waren damals junge Frauen, und diese konnten schwanger werden. Nach dem Mutterschutz mussten die Frauen zurück zur Arbeit, sonst wäre ihre fragile existenzielle Konstruktion in der Fremde zusammengebrochen, weshalb viele ihre Neugeborenen den Großeltern in der alten Heimat überließen – man nannte sie Kofferkinder und über ihr Schicksal ist hierzulande wenig bekannt. Sie pendelten an Wochenenden und in den Ferien von einer Familie zur anderen, sie lebten in verschiedenen Welten. Im Fall des kleinen Alem war es die deutsche Familie, die ihm die notwendige Geborgenheit schenkte. Der Pflegevater war ein ehemaliger Wehrmachtssoldat und Antisemit, aber ein Mann mit großem Herz. Und es war die kettenrauchende deutsche Pflegemutter, die den Jungen beschützte, während die leibliche Mutter nicht nur erlaubte, dass ihr betrunkener Lebensgefährte ihren Sohn schlug, sondern dass auch sie selbst misshandelt wurde, sodass die Besuche bei diesem unglücklichen Paar ein Trauma waren, aus dem nur die Pflegeeltern das Kind herauszuholen vermochten.

Wenig bekannte Seiten der deutschen Geschichte

Mit einem guten Gespür für psychologische Hintergründe nicht nur der Erwachsenen, sondern auch seiner jugendlichen Freunde, ermöglicht uns Alem Grabovac den Einblick in wenig bekannte Seiten der bundesrepublikanischen Geschichte. Sein Text ist eine verschriftlichte Oral History, in der an unerwarteten Stellen verblüffende Metaphern aus prosaischen Fakten entstehen, etwa wenn er von den leer stehenden Häusern in der alten Heimat berichtet, in die die Gastarbeiter:innen ihr gesamtes Erspartes, ihre körperliche Arbeit und ihre Träume verbaut haben, wenn die Mutter am Ende ein All-inclusive-Angebot für das eigene Begräbnis im dalmatinischen Hinterland bestellt oder wenn die ethnische Zugehörigkeit der Hauptpersonen das multikulturelle Leben im ehemaligen Jugoslawien widerspiegelt: Alems Mutter Smilja ist Kroatin, sein Vater Emir, ein Kleinkrimineller, ist Moslem, wie man damals die Bosniaken nannte, und Smiljas Lebensgefährte Dušan ist Serbe, genauso wie sein Sohn Svetozar, der zu jenen Kindern gehörte, die man in der alten Heimat bei den Großeltern zurückgelassen hatte und deren Leben vielfach noch trauriger verlief als das Leben der Kinder in den Pflegefamilien.

Doch anders, als man es erwarten würde, überschattet der Nationalismus nur kurz die Beziehung zwischen Smilja und Dušan. Sie sind selbst potenzielles Ziel von Ausländerfeindlichkeit, deshalb erlauben sie sich nicht – wie etwa die Mutter in Didier Eribons Roman Die Arbeiterin –, politisch nach rechts abzudriften. Und in einem weiteren Aspekt unterscheiden sich die beiden Mütter: Während sich Eribon, der inzwischen zur Pariser intellektuellen Elite gehört, durch den Dialekt der Provinz seiner Mutter nähern will, spricht die kroatische Mutter keinen Dialekt. Anstatt ihr eventuell fremd klingendes Deutsch zur Karikatur werden zu lassen, lässt der Sohn sie Hochdeutsch sprechen. Von einem einfachen Mädchen aus einem kroatischen Dorf hat sich Smilja zu einer respektablen und gut situierten Frankfurter Rentnerin hochgearbeitet, zu der auch eine gepflegte Ausdrucksweise gehört. Wenn man von ihrem Glauben an Wunderheiler absieht, könnte man sogar vom glücklichen Ende ihrer schweren Lebensgeschichte sprechen.

Die Stärke dieses Romans liegt in seiner nüchternen, geradlinigen Erzählstimme. Die Abläufe in der toxischen Beziehung zwischen Smilja und Dušan, die Spiralen der Armut, die unwürdigen Lebensverhältnisse, der Alkohol, die undefinierten Sehnsüchte und Leerstellen sind von einer überzeugenden Dringlichkeit getragen – dieser Erzähler muss seine Geschichte weitergeben. Und es ist wichtig, dass wir sie lesen.

Die Gemeinheit der Diebe Alem Grabovac hanserblau 2024, 240 S., 24 € Leseprobe

Alida Bremer ist eine kroatisch-deutsche Schriftstellerin. 2023 erschien von ihr Tesla oder die Vollendung der Kreise (Jung & Jung)