Be Real bricht sein Versprechen
Das Handy bimmelt kurz, auf dem Bildschirm taucht ein gelbes Warnzeichen auf. „Zeit für Be Real“. Der Countdown läuft. Zwei Minuten bleiben den Nutzern, um ein Bild von sich und ihrer Umgebung zu machen und dieses in der App hochzuladen. So authentisch wie möglich soll man Ausschnitte aus dem eigenen Alltag zeigen, so die Idee. Das aufgenommene Bild können die eigenen Follower dann sehen. Jakob isst beispielsweise gerade einen Donut. Rosa spielt Tischtennis. Lena sieht fern.
Doch viele Nutzer von Be Real stutzen dieser Tage, wenn sie auf ihrem Bildschirm scrollen. Zwischen all den Fotos ihrer Freunde tauchen plötzlich Anzeigen auf, etwa für eine Bank, einen Onlineshop oder einen Lieferdienst.
Dabei hatte Be Real zu seiner Einführung noch versprochen, genau das nicht zu tun. Es wollte ein Gegenentwurf zu den klassischen sozialen Netzwerken wie Instagram oder Tiktok sein. Eine Bildbearbeitung ist bei Be Real nicht möglich, ebenso gibt es keine verschönernden Filter für die Fotos. Die Nutzer sollen sich so natürlich wie möglich präsentieren. Und Werbeanzeigen sollte es eben auch keine geben. So steht sogar heute noch auf der Website: „Be Real ist kostenlos und wir schalten keine Werbung.“
40 Millionen aktive Nutzer
Mit dieser Idee hat die App, entwickelt von den beiden Franzosen Alexis Barreyat und Kévin Perreau, großen Anklang gefunden. Be Real erreichte vor etwa zwei Jahren die vordersten Plätze in den Download-Charts der App Stores. Insgesamt 40 Millionen aktive Nutzer habe Be Real aktuell, so das Unternehmen. Drei Viertel davon posten mindestens sechsmal pro Woche.
Doch in den vergangenen Monaten hat sich Be Real immer weiter von seinem ursprünglichen Gedanken entfernt und ähnelt zunehmend anderen sozialen Netzwerken. Seit Anfang des Jahres gibt es Accounts von Unternehmen wie Adidas und prominenten Persönlichkeiten, die als Influencer auftreten. Und nun tauchen eben auch Werbeanzeigen auf.
Hinter den jüngsten Änderungen steckt der neue Eigentümer des Unternehmens. Vor wenigen Wochen hat der französische Videospielentwickler Voodoo die Firma für 500 Millionen Euro aufgekauft. „Wir denken, dass Werbung für das Geschäftsmodell einer Social-Media-Plattform notwendig ist“, sagte Alexandre Yazdi, Chef von Voodoo, der britischen Zeitung „Financial Times“. Von Be Real selbst heißt es auf Anfrage, man wolle dadurch das Wachstum ankurbeln.
Be Real muss die Nutzer halten
Kein Wunder, denn genau damit strauchele die App gerade, sagt Leyla Dogruel, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Erfurt. Be Real steht vor einem riesigen Problem: Es war eigentlich nie dazu gedacht, dass die Nutzer viel Zeit dort verbringen. Anfangs konnte man pro Tag nur ein Bild hochladen, auch die Beiträge der Freunde waren schnell angesehen.
Die Einfachheit gefällt zwar den Nutzern. Verdienen lässt sich damit aber nichts. „Das Unternehmen muss also neue Funktionen hinzufügen, um die Nutzer auf der Plattform zu halten und neue dazuzugewinnen“, sagt Dogruel. So hat Be Real beispielsweise folgende Regeln eingeführt: Wer sein Bild pünktlich innerhalb der zwei Minuten hochlädt, bekommt einen Bonus und darf daraufhin noch zwei weitere Fotos posten.
„Bei Social Media geht es immer um den Handel mit der Aufmerksamkeit“, sagt Dogruel. Ähnliche Entwicklungen habe man auch schon in anderen sozialen Netzwerken gesehen. „Üblicherweise startet eine kleine Gruppe von Leuten ein Netzwerk, das sich gegen den Mainstream stellen möchte. Doch mit steigender Nutzerzahl und Professionalisierung rückt das Geschäftliche in den Vordergrund.“ Sie erinnert daran, dass auch Snapchat eigentlich eine einfache App sein wollte, über die die Nutzer kurzfristige Momente einfangen, die nur für einen begrenzten Zeitraum sichtbar sind. Im Laufe der Jahre sind immer mehr Funktionen dazugekommen.
Menschen wollen sich immer inszenieren
Viele Nutzer von Be Real ärgern sich über die zunehmende Kommerzialisierung der App. Er sei enttäuscht, erzählt ein Nutzer. Lange hat er sich gegen die klassischen sozialen Netzwerke gesträubt, Be Real schien ihm eine tolle Alternative zu sein. Doch die Werbung nerve ihn. Auch im Internet gibt es zahlreiche Beschwerden.
Medienforscherin Leyla Dogruel wiederum stellt infrage, inwiefern die App überhaupt mal ein alternatives Netzwerk gewesen ist. Denn auch wenn es keine Bearbeitungsmöglichkeit für die Bilder gibt und die Zeit für die Aufnahme begrenzt ist: Es gehe trotzdem immer noch um Selbstdarstellung.
„Die Nutzer versuchen innerhalb des Countdowns eine bestmögliche Inszenierung hinzubekommen“, sagt sie. In der Nase popelnd oder mit verheultem Gesicht würden sich wohl die wenigsten zeigen. Wer wiederum gerade mit Freunden unterwegs oder auf einer tollen Reise ist, freut sich, das der Welt just in jenem Moment zu präsentieren.
Bleibt die Frage, wie schlimm das überhaupt ist. Immerhin tendiert der Mensch dazu, sich auch außerhalb der sozialen Medien zu inszenieren. Beim Mittagessen mit den Kollegen gibt man Urlaubserlebnisse zum Besten. Auf Partys will man die anderen Gäste mit spannenden Geschichten beeindrucken. Nur dass sich im echten Leben nicht plötzlich eine nervige Werbeanzeige dazwischenschaltet.