Bayer: Aktionäre erleben den nächsten Monsanto-Moment – WELT
Neben den Glyphosat-Klagen droht nun eine weitere Monsanto-Chemikalie zur kostspieligen Bürde für Bayer zu werden. Skurril: Die Substanz wird seit den Siebzigern nicht mehr produziert. Viel hängt jetzt von der Entscheidung eines US-Gerichts ab – auch für Aktionäre.
Die Kleinstadt Monroe im US-Bundesstaat Washington dürfte bisher vor allem Horrorfans ein Begriff gewesen sein: Der Ort diente einst als Kulisse für den Gruselfilm „The Ring“. Doch in dieser Woche hat Monroe auch Bayer-Aktionäre einmal mehr das Gruseln gelehrt, denn die Kleinstadt ist Sitz des „Sky Valley Education Center“. Die Schule ist berühmt für ihr alternatives pädagogisches Konzept – und mittlerweile auch berüchtigt als Ort, in dem Umweltgifte im Gebäudekomplex einige Schüler und Lehrer offenbar schwer krank gemacht haben.
Der Rechtsstreit darüber tobt bereits seit einigen Jahren. Die Klagen richten sich im Wesentlichen gegen den einstigen Hersteller der Chemikalie PCB, die die Kläger für ihr Leiden verantwortlich machen: Monsanto – und damit den Bayer-Konzern, der den US-Hersteller 2018 übernommen hat. Nachdem ein Berufungsgericht den ersten der Fälle wieder zurück an die Vorinstanz verwiesen hatte, sah es zunächst gut aus für Bayer.
Doch in dieser Woche hat der oberste Gerichtshof im Bundesstaat Washington entschieden, den sogenannten Erickson-Fall zu überprüfen. Die Unsicherheit darüber, wie das Verfahren nun ausgehen wird und vor allem, welche Signalwirkung es für andere Klagen dieser Art haben könnte, hat die Bayer-Aktie mit fast sieben Prozent zeitweise tief ins Minus gedrückt.
Der Wertverlust spiegelt die Sorge der Investoren darüber, dass Bayer zusätzlich zu dem noch immer ungelösten Rechtskomplex rund um das Unkrautmittel Glyphosat auch im Fall PCB zunehmend ins Visier der mächtigen US-Klageindustrie geraten könnte – und sich damit womöglich ein größeres juristisches Problem eingehandelt hat, als bisher gedacht. Für Bayer-Chef Bill Anderson, der die Bedrohung durch die Glyphosat-Klagen nach eigener Aussage bis 2026 „signifikant eindämmen“ will, droht der Fall PCB damit zur nächsten großen Herausforderung zu werden.
Der Fall ist auch deshalb komplex, weil die Chemikalie um die es geht, polychloriertes Biphenylen, kurz PCB, von Monsanto seit 1977 nicht mehr produziert wurde – zwei Jahre bevor der Stoff in den USA wegen erheblicher Umwelt- und Gesundheitsrisiken verboten wurde. PCB wurde in den 1950er und 1960 Jahren weltweit vielseitig eingesetzt, unter anderem in Leuchtstoffröhren, Farben und Fugendichtungsmassen. In der Sky Valley Schule hatten einige Lehrer und Schüler vor rund zehn Jahren erstmals gesundheitliche Probleme angegeben, darunter neurologische Erkrankungen und Krebs, die sie auf das Vorhandensein von PCB im Gebäude zurückführen.
Die erste Klage gegen den einstigen Hersteller Monsanto wurde 2021 vor Gericht verhandelt. Eine Geschworenenjury sprach drei Lehrerinnen der Schule damals zusammen 185 Millionen Dollar zu. Ein Berufungsgericht hob die Entscheidung allerdings später wegen grundlegender Verfahrensfehler wieder auf, unter anderem, weil fälschlicherweise bestimmte Gutachten verwendet wurden und zudem das Recht des Bundesstaats nicht korrekt angewendet worden sei.
Letzteres ist ein wichtiges Argument in der Verteidigung von Bayer. Der Konzern verweist darauf, dass der sogenannte Strafschadensersatz (punitive damage), der beim ersten Jury-Urteil eingesetzt wurde, im Bundesstaat Washington gar nicht anwendbar sei. „Das Berufungsgericht hat im Fall Erickson völlig zu Recht Fehler festgestellt und deshalb sollte es auch durch den Washington Supreme Court kein anderes Urteil geben“, teilte der Konzern mit.
Zudem verweist Bayer darauf, dass die beanstandeten Produkte wie Lampen und Dichtungsmasse in der Schule nicht von Monsanto, sondern von anderen Unternehmen hergestellt worden seien und bereits vor Jahrzehnten hätten ausgetauscht werden müssen. Es gebe „keine ausreichenden Beweise für die Verantwortlichkeit von Monsanto“. So sei in Luftproben keine PCB-Belastung in den meisten Klassenräumen nachgewiesen worden und in den übrigen Räumen nur eine „sehr geringe Konzentration, die unter den Grenzwerten der US-Umweltbehörde EPA“ geblieben sei. Auch die Blutproben der Kläger hätten keine höheren PCB-Werte gezeigt, als im Durchschnitt der Bevölkerung nachweisbar.
Bayers Siegchancen liegen laut Analysten bei 50 Prozent
Insgesamt haben dem Unternehmen zufolge bisher rund 200 Personen aus dem Umfeld des Sky Valley Center Klage eingereicht. Neun Verfahren seien bisher in erster Instanz verhandelt worden, davon habe die Klägerseite in erster Instanz in acht Fällen recht bekommen. Zudem gebe es Klagen wegen angeblicher Gesundheitsschäden von Schulen und Schulbezirken im US-Bundesstaat Vermont.
Noch ist die Zahl der Klagen rund um angebliche Gesundheitsschäden durch PCB damit begrenzt. Wie sich das Thema weiterentwickelt, hängt jetzt maßgeblich davon ab, wie das oberste Berufungsgericht im Bundesstaat Washington entscheidet. Sollte es zu einer Verhandlung kommen, schätzen die Analysten der Bank of America (BoA) die Siegchance für Bayer auf 50 Prozent. Günstiger wäre es für den Konzern gewesen, wenn der Supreme Court eine Überprüfung abgelehnt hätte: In dem Fall hätte Bayer wohl einen Großteil der PCB-Streitigkeiten zu den Akten legen können, urteilt BoA-Analyst Sachin Jain.
Ähnlich sieht das Fondsmanager Markus Manns von Union Investment. „Der Washington State Supreme Court hat überraschend den PCB-Erickson-Fall angenommen, den Bayer in der Berufung gewonnen hatte. Das Berufungsgericht hatte verschiedene Beweise und Gutachten der Klägerseite nicht zugelassen“, sagt Manns.
„Damit hätte Bayer hohe Chancen in anstehenden Berufungsprozessen gehabt und weitere Klagen wegen Gesundheitsschädigung wären sehr unwahrscheinlich gewesen. Die Verhandlung vor dem Washington State Supreme Court bedeutet nun erhebliche Unsicherheit, ob Bayer wirklich einen großen Teil der PCB-Rechtstreitigkeiten beilegen kann.“
Der Fall Erickson ist der erste von mehr als einem Dutzend Urteilen, die nun bei dem Berufungsgericht liegen. Insgesamt geht es nach Angaben der Agentur Bloomberg um 1,5 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Bei den Glyphosat-Klagen sind trotz einiger juristischer Erfolge, die Bayer zuletzt erzielen konnte, rund 58.000 Fälle (Stichtag 15. Juli) nach wie vor nicht beigelegt. Bayer hat für die Rechtsstreitigkeiten rund um das Pflanzenschutzmittel insgesamt rund 16 Milliarden Euro an Rückstellungen gebildet, davon sind nach Unternehmensangaben rund zehn Milliarden Euro bereits ausgegeben worden.
Aus Sicht der Börse sind solche Rechtsrisiken ein großer Unsicherheitsfaktor. Auch der neue Vorstandschef Anderson konnte daran noch nicht viel ändern. Das spiegelt sich im Kurs: Seit Andersons Amtsantritt im Juni 2023 hat die Bayer-Aktie fast 50 Prozent an Wert eingebüßt. Zum Zeitpunkt der Monsanto-Übernahme im Sommer 2018 kostete das Papier gut 100 Euro – aktuell sind es nur noch rund 27 Euro.
Anja Ettel ist Korrespondentin für Wirtschaft und Finanzen in Frankfurt. Sie berichtet über die Pharma- und Chemieindustrie, Biotechnologie, Konjunktur und Geldpolitik. Sie ist außerdem Co-Host des WELT-Podcasts „Alles auf Aktien“.
Source: welt.de