Autobranche: Schicksalstage zum Besten von Volkswagen im Silicon Valley
Auf dem Parkplatz des unscheinbaren Flachbaus nahe der Stanford University rascheln die Zedern und Platanen im Wind. Drinnen summen Computer, hier arbeiten die Entwickler von Volkswagen gemeinsam mit dem amerikanischen Partner Rivian an Software für die nächste Fahrzeuggeneration. Alles an diesem Ort in der amerikanischen Stadt Palo Alto atmet Silicon-Valley-Atmosphäre – selbst das Gebäude erzählt seine eigene Geschichte: In den 1950er Jahren, so lautet die lokale Folklore, zog hier eine junge Elektronikfirma ein und ließ den Bau bewusst schlicht errichten, falls die eigenen Geschäftspläne scheitern sollten und die Gemeinde den Unternehmenssitz übernehmen und in eine Schule umwandeln müsste: ein Plan B war damals Teil des Gründeralltags.
Heute hat VW ausgerechnet hier Quartier bezogen und steht mächtig unter Druck. Das Gemeinschaftsunternehmen Rivian Volkswagen Group Technologies soll den digitalen Neustart des Wolfsburger Konzerns stemmen, doch zuletzt kursierten Berichte über ernsthafte Probleme. Als Wassym Bensaid, einer von zwei Ko-Chefs des Gemeinschaftsunternehmens, kürzlich in kleiner Runde in Palo Alto auf das Thema angesprochen wurde, reagierte er dünnhäutig. Die angeblichen Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit seien nur „Gerüchte und Lärm“ von Leuten, die eigene Ziele verfolgten, konterte er scharf – ganz offensichtlich ein Seitenhieb auf interne Kritiker bei VW. So etwas zu kommentieren sei „reine Zeitverschwendung“, fuhr er fort. Eine knallharte Ansage, ungewohnt in der sonst so PR-gestrafften Unternehmenswelt.
VW und die Software, das ist eine Geschichte voller Rückschläge und Dramen. Der frühere Vorstandsvorsitzende, Herbert Diess, wollte die digitale Architektur für zukünftige Modelle des Konzerns ganz auf eigene Faust entwickeln und scheiterte krachend. Bis heute lasten Fehlplanungen seiner Amtszeit auf dem Konzern, der Schaden durch verspätete Software ist beträchtlich. Sein Nachfolger Oliver Blume ordnete alles neu. Für den chinesischen Markt arbeitet VW jetzt mit Partnern aus der Volksrepublik an lokalen Systemen. Die scheinen ordentlich voranzukommen, zumindest ist bislang nichts gegenteiliges bekannt. Für alle westlichen Absatzmärkte – vor allem Europa und Amerika – schloss Blume den Pakt mit Rivian, einem Start-up aus Kalifornien, das finanziell am Anschlag, aber mit starker Software unterwegs war.
Jetzt rücken technische Bewährungsproben für die Kooperation näher. Und am VW-Sitz in Wolfsburg, genau wie an den Standorten des Gemeinschaftsunternehmens an der amerikanischen Westküste, ist die Nervosität mit Händen zu greifen. Bis zu 5,8 Milliarden Dollar steckt VW in die Allianz mit den Amerikanern. Erhebliche Mittel sind schon geflossen, nun hängen weitere Tranchen am bevorstehenden Wintertest. Erste Prototypen müssen sich bei Minusgraden, Nässe und Eis in Nordschweden bewähren, einer beliebten Region für solche Härtetests. Und in der Branche gilt es keineswegs als selbstverständlich, dass die Technik standhält. Parallel ringen die Partner darum, Start-up-Mentalität mit der behäbigen Logik eines Großkonzerns in Einklang zu bringen.
All das geschieht in einem Moment, in dem der ganze VW-Konzern unter der Last schwacher Märkte, enttäuschender Geschäftszahlen und wachsender Zweifel von Investoren ächzt. Vorstandschef Blume wirkt zunehmend angeschlagen, und die Software-Offensive im Silicon Valley wird zum ganz persönlichen Stresstest für ihn. Sie entscheidet mit darüber, ob er sich an der Spitze halten kann oder ob VW im globalen Sturm den nächsten Vorstandsvorsitzenden verschleißt.
VW und Rivian brauchen mehr Entwickler
An einem milden Herbstvormittag in Kalifornien ist davon auf den ersten Blick wenig zu sehen. Auf der Durchgangsstraße in Richtung San Francisco, die vor dem Gebäude vorbeiführt, rauschen im kurzen Takt fahrerlose Robotaxis von Waymo vorbei, einer Gesellschaft des Google -Konzerns, die ihren Dienst in diesen Tagen auf die ganze Bay Area ausgeweitet hat. Durch die Glastür des Flachbaus gehen Entwickler in Poloshirts ein und aus, im Foyer serviert ein hauseigenes Café Espresso und Iced Latte. Rund 600 Mitarbeiter arbeiten hier in Palo Alto. Weitere sind in Irvine südlich von Los Angeles angestellt. Alles in allem hat RVTech , so die Kurzform des Gemeinschaftsunternehmens, 1500 Mitarbeiter, und es stellt weiter ein. In Palo Alto profitiere man dabei von der Nähe zur Universität und werbe auch Fachleute von anderen Tech-Konzernen ab, heißt es. Davon gibt es hier viele. Der vergleichsweise kleine Ort mit seinen 68.000 Einwohnern gilt als Geburtsstätte des Silicon Valley.
Wofür all die Leute nötig sind, zeigt sich hinter der Zugangssperre zu den Gebäudetrakten. Werkstätten und Großraumbüros reihen sich aneinander, Entwickler schreiben Programme oder arbeiten an Chips und Platinen. In den Arbeitsgruppen sind Deutsche zu sehen, überwiegend aber Amerikaner, unter ihnen trage viele schon die Erfahrung der ersten Rivian-Jahre mit sich.
Das Start-up wurde vor anderthalb Jahrzehnten von Robert Scaringe gegründet, genannt „RJ“. In Amerika ist man Tesla-Konkurrent: Rivian baut eigene Elektroautos und ist technisch ambitioniert, schreibt aber hohe Verluste. Nach dem Börsengang war der Kurs abgestürzt, zuletzt brauchte das Management um Scaringe dringend frisches Geld. Der milliardenschwere Pakt mit den Wolfsburgern kam da gerade recht. VW-Chef Blume wiederum sah die Chance, auf Software zuzugreifen, die endlich modernen Anforderungen entspricht, vom drahtlosen Update ohne Werkstattbesuch über die reduzierte Zahl an Zentralrechnern im Fahrzeug bis zur Schnittstelle für Software zum autonomen Fahren.

Unter Hochdruck wurden Arbeitspläne geschrieben. Jetzt muss es Schlag auf Schlag gehen. Zu den vertraglichen Besonderheiten gehört, dass die gemeinsam entwickelte Architektur zunächst nicht in einem Modell des VW-Konzerns zum Einsatz kommt, sondern im Rivian R2, einem elektrischen Stadtgeländewagen, dessen Produktion schon kommendes Jahr starten soll. Parallel läuft die Arbeit am VW „ID.Every1“, einem Kleinstwagen, dessen Marktstart für übernächstes Jahr vorgesehen ist. Später folgen Modelle von Audi und der amerikanischen VW-Marke Scout. Die Doppelspitze des Joint Ventures – Bensaid und sein deutscher Ko-Chef Carsten Helbing – beteuert, dass die Verteilung von Ressourcen auf Projekte kein Streitthema ist. In Deutschland scheint aber genau diese Befürchtung die Runde zu machen. „Jedem im VW-Konzern muss klar sein, dass es Rivian am Ende vor allem um die eigenen Autos geht“, sagt ein Manager eines Partnerunternehmens, das eng in Entwicklungsprozesse von VW eingebunden ist. Die Amerikaner stünden unter Druck, ihren niedrigen Aktienkurs zu verbessern. Dafür müssten sie zeigen, dass sich ihre Modele am Markt durchsetzen.

Hinzu kommt eine grundsätzliche Schwierigkeit. Rivian ist als Jungunternehmen sprichwörtlich am Reißbrett entstanden, mit kleiner Produktpalette und schlanker, elektronischer Architektur. Im VW-Konzern hingegen reichen die Anforderungen vom Einstiegsmodell bis zur Luxuskarosse. Schon in den ersten Prototypen zeigt sich, wie stark die Elektronik an unterschiedliche Fahrzeugklassen angepasst werden muss, zumal Konzernmarken wie Audi ganz eigene Vorstellungen von Fahrdynamik und anderen Leistungsmerkmalen mitbringen.
Der Abstimmungsbedarf ist enorm, zusätzlich erschwert die Zeitverschiebung von neun Stunden die Koordination. Den beiden Führungskräften Bensaid und Helbing muss zuletzt klar geworden sein, dass noch viel mehr Kommunikation nötig ist, um alles in der Spur zu halten. Vergangene Woche waren sie auf einer konzerninternen „Roadshow“ in Ingolstadt, Weissach und Wolfsburg unterwegs, um Finanzfachleuten und anderen Mitarbeitern von Audi, Porsche und VW noch einmal die Projektstruktur zu erläutern und Anknüpfungspunkte aufzuzeigen. In Berlin entsteht ein neuer Standort von RVTech, auch als Schnittstelle zu den Marken des Konzerns.
VW-Chef Blume, so heißt es, sei eng eingebunden. Er demonstriert unerschütterlichen Optimismus. Mit Rivian arbeite man an der Zukunft der Mobilität, ließ er kürzlich wissen, und zwar unter Vorzeichen wie aus dem Management-Lehrbuch: „Weniger Komplexität, mehr Klarheit. Weniger Gerede, mehr Umsetzung. Weniger Silos, mehr Teamwork.“ Gleichzeitig ist klar, dass der Aufsichtsrat ihm im Nacken sitzt. Die Aktionärsfamilien Porsche und Piëch verfolgen jeden Schritt, genau wie der mächtige Konzernbetriebsrat. Der hatte von Beginn an klargemacht, dass er die milliardenteure Kooperation mit dem Jungunternehmen kritisch sieht.
Und die Komplexität in der Software wird noch größer. Jenseits des Pakts in Amerika müssen VW-Entwickler aktuelle Modellreihen des Konzerns am Laufen halten, deren Software noch aus früheren Zeiten stammt. Außerdem haben Politik und Autokäufer in Amerika und Europa längst einstige Visionen der Konzernoberen durchkreuzt, wonach in wenigen Jahren nur noch Elektroautos verkauft werden. Nun feiert der Verbrenner eine Renaissance, und wieder werden Pläne durcheinandergewirbelt. Rivians Software ist vor allem für Batterieautos ausgelegt, und so rückt ausgerechnet eine konzerninterne Software-Einheit wieder ins Blickfeld, die schon im Abseits stand: die unter Diess gegründete Krisensparte Cariad . Sie ist zwar geschrumpft, wird aber womöglich mandatiert, um die Verbrenner-Architektur weiterzuschreiben. Ob und wie, soll wohl noch dieses Jahr geklärt werden.
In Palo Alto denkt man da schon weiter in die Zukunft. Sobald die gemeinsam entwickelte Software am Markt sei, wolle man sie sogar an andere Hersteller lizenzieren, hieß es jüngst. Doch die Zeitpläne sind eng, selbst im Silicon Valley zeigt sich der Erfolg großer Würfe oft erst nach langen Zyklen. Daran erinnert auch der unscheinbare Flachbau. Das Unternehmen, das hier in den 1950ern einzog, wuchs, zog irgendwann weiter und ist heute ausgerechnet Teil eines deutschen Konzerns, Siemens Healthineers . Eine Erfolgsgeschichte, nur eben nicht im Takt weniger Monate. Zwischen Gründung und Zusammenschluss lagen siebzig Jahre. Für VW und Konzernchef Blume zählt in der Restrukturierung jeder Tag.