Ausstellung „Atmen“: Halten Sie doch bitte einmal die Luft an, bis Sie diesen Artikel zu Ende gelesen haben

Wenn man der Philosophie der frühen Griechen glaubt, so war am Anfang alles eins. Das Kleine und das Große, das Spitze und das Stumpfe, das Leuchtende und das Dunkle. Alles wurde zusammengehalten durch einen flüchtigen Äther, aus dem sich erst nach und nach die einzelnen Dinge, die Farben und Geschmäcke, die Städte und Äcker, die Wolken und Gestirne am Himmel herausbildeten. Die Welt fing an zu atmen, und mit jedem Luftstoß kam etwas Neues hinzu.

Atmen, das war wie wachsen, größer werden, mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Unterdessen sind aus diesen Stückchen veritable Stücke geworden, und das Wachstum der letzten Jahrhunderte hat bekanntlich die Luft zum Atmen knapp werden lassen. Die Feinstaubbelastung nahm zu. Die Hektik wurde größer. Die Atemlosigkeit setzte ein. Die Meeresspiegel stiegen. Und das ganze schöne Gleichgewicht geriet ins Wanken. Bis das System zu kippen begann.

In der Hamburger Kunsthalle ist nun eine Ausstellung zu sehen, die sich dem Atmen in all seinen mythologischen, sozialen und politischen Dimensionen zuwendet. Von der leuchtenden Landschaftsmalerei der niederländischen Meister bis zur Luftverschmutzung in den globalen Metropolen von heute. Vom beseelenden Hauch der antiken Götter bis hin zur Black-Lives-Matter-Bewegung und zu George Floyds letzten Worten „I can’t breathe“. Wo das Atmen in der Kunst zum Thema wird, geht es um mehr als nur um die Luft, die in den Körper hinein- und wieder aus ihm herausströmt. Es geht um das Flüchtige, Inspiratorische, im buchstäblichen Sinne Begeisternde – aber eben auch um ein knappes, gefährdetes, toxisches und neuerdings hochinfektiöses Gut.

So unbewusst wir zumeist vor uns hin atmen, so elementar ist zugleich die Kraft, die sich von jeher mit diesem Vorgang verbindet. Der göttliche Atem ist das beseelende Element von allem. Und wie der Bildhauer Pygmalion nach der mythologischen Überlieferung einst versuchte, der von ihm geschaffenen Elfenbeinstatue allein dadurch Leben einzuhauchen, dass er sie küsste, versucht nun auch die österreichische Performancekünstlerin Valie Export ein Liebesgedicht in Hauchsequenzen zu übersetzen, um den anderen, der offenbar gerade fehlt, zu erreichen. Immer heftiger und zwanghafter werden die Atemstöße der Künstlerin, die man in einer Videoinstallation hinter einer Glasscheibe sieht, auf die sie bis zur beinahe völligen Verausgabung den Satz „Ich liebe Dich“ haucht.

Ganz anders hingegen der Film 1395 Days without Red des albanischen Künstlers Anri Sala, der eine Musikerin auf ihrem Weg zur Orchesterprobe durch die belagerte Stadt Sarajevo begleitet. Der Titel bezieht sich auf die 1395 Tage der Belagerung der bosnischen Stadt von Anfang bis Mitte der Neunzigerjahre, als das Tragen von Rot oder anderen leuchtenden Farben jederzeit die Aufmerksamkeit eines verborgenen Scharfschützen auf sich ziehen konnte. An jeder Kreuzung stoppt die Musikerin, hält den Atem an, schaut um sich und geht weiter. Und während man einerseits den Probendurchlauf des ersten Satzes von Peter Tschaikowskys berühmter 6. Sinfonie, der Pathétique, hört, legen sich die Atemlosigkeit und das Im-Kopf-Summen der im Zickzack um die Ecken und über die Straßen spurtenden Frau wie eine zweite Partitur über die kaputte Stadt und die Musik.

Nicht erst seit der Corona-Pandemie ist das Atmen zu einer politischen Angelegenheit geworden. Doch brachten die Diskussionen um Masken, Krankenhausbetten und Lockdowns die grundlegende Verletzlichkeit des Menschen besonders deutlich ins Bewusstsein. Der österreichische Künstler Markus Schinwald hat in einer Reihe von bereits vor der Pandemie entstandenen Gemälden dieses Thema sozusagen vorweggenommen, indem er lose auf Auktionen erstandene Porträtdarstellungen aus dem 19. Jahrhundert mit allerlei Blasen, Gesichtsprothesen und fest zugeschnürten Masken übermalte. Gleichgültig und seltsam skeptisch schauen die Zeitgenossen von damals den Betrachter von heute an, als habe man von der Welt da draußen nicht mehr viel zu erwarten.

Vom ersten bis zum letzten Zug drückt sich im Atmen ein unmittelbares Weltverhältnis aus. Das langsame oder das hektische Atmen, die kontemplative Atempause oder die akute Atemnot. In all diesen körperlichen Zuständen lässt sich ein Gelingen oder Misslingen, eine radikale Unfreiheit oder gerade eine Befreiung von inneren und äußeren Zwängen erkennen. In der Hamburger Kunstschau, die in alle Richtungen ausgreift, kann man sich davon jetzt in großer Ruhe begeistern lassen und danach unter den zwei kräftigen Platanen am zentralen Kuppelbau Platz nehmen und einmal tief Luft holen.

Die Ausstellung „Atmen“ in der Hamburger Kunsthalle ist noch bis zum 15. Januar zu besichtigen.