Atomkraft in Frankreich: Endlager in Sicht

Als sich die Aufzugstür, die einem Raum in einem U-Boot ähnelt, schließt, ruft Mathieu Saint-Louis: „Wir fahren zum tiefsten Ort Frankreichs.“ Mathieu Saint-Louis und sein Kollege Jacques Delay von der französischen Nationalen Agentur für die Entsorgung radioaktiver Abfälle (ANDRA) bereiten eine Gruppe internationaler Reporter auf das vor, was sie unter Tage erwartet.

Nach fünf Minuten fährt der Aufzug in eine Tiefe von 500 Metern hinab – mitten in das Tongestein, das als Schutzkapsel für das unterirdische Labor dient. Hier finden Wissenschaftler heraus, wie man radioaktive Abfälle dauerhaft und sicher lagern kann. Das eigentliche Endlager für die dauerhafte Lagerung radioaktiver Abfälle soll einige Kilometer entfernt gebaut werden – in spätestens vier Jahren soll das Großprojekt beginnen.

Abfälle nach Grad er Reststrahlung sortiert

Ein geologisches Tiefenlager für die Endlagerung abgebrannter Brennelemente ist noch nirgendwo auf der Welt in Betrieb. Die erste Anlage im Südwesten Finnlands soll nächstes Jahr das erste sein. Die Franzosen, die weltweit den größten Anteil an Atomstrom haben, sind nicht ganz so schnell – aber immerhin deutlich schneller als Deutschland, wo der Prozess der Endlagersuche immer wieder ins Stocken geraten ist.

Frankreich hat den passenden Ort nahe dem Dorf Bure, 220 Kilometer östlich von Paris, gefunden. Dieses Endlager soll alle Abfälle aufnehmen, die bisher in französischen Reaktoren angefallen sind. Die Suche nach geeigneten Standorten begann vor dreißig Jahren. Geologen und ANDRA haben die Liste der möglichen Standorte für das unterirdische Labor auf vier Bezirke eingegrenzt. Im Jahr 1997 wurden die betroffenen Gebietskörperschaften aufgefordert, über diese Frage abzustimmen. Ein Jahr später wurde die Wahl eines Standorts in der Nähe von Bure bestätigt.

Hier wird gebohrt. : Bild: Tomáš Grečko

Mit dem Bau des Versuchslabors wurde vor zwanzig Jahren begonnen. Es werden Tunnel und Schächte im Maßstab 1:1 gebaut. Dennoch müssen die ANDRA-Mitarbeiter immer wieder beteuern, dass es auf dem Gelände keine radioaktiven Abfälle gibt und sie „nur Wissenschaftler sind, die Experimente machen“. Lokale Anti-Atomkraft-Aktivisten glauben ihnen nicht. Sie sagen, die Regierung versuche es mit der „Salami-Methode“ – erst ein Labor, und wenn es dann gebaut ist, wäre es schade, es nicht als Lager zu nutzen.

Erdbeben nicht das größte Problem

Die Versuchung, das bereits ausgegrabene Labor mit dem geplanten Endlager in einigen Kilometern Entfernung zu verbinden, ist groß. Denn die Kosten für das Endlager werden nach einer sechs Jahre alten Schätzung auf 26 Milliarden Euro geschätzt. Seitdem sind die Preise weiter gestiegen, und jeder eingesparte Tunnelkilometer wäre von enormem Wert.

Derzeit ist das Tunnelnetz über einen Kilometer lang, und die Wissenschaftler bohren je nach Bedarf noch weiter. Sie testen verschiedene Parameter von Gängen und Schächten – zum Beispiel ändern sie deren Durchmesser oder die Materialien und die Konstruktion der Verstärkungen. An manchen Stellen sind die Tunnel nur fünf, an anderen zehn Meter breit. An manchen Stellen ist die Betonummantelung zwanzig Zentimeter dick, an anderen einen halben Meter.

Aktivist Joël Domenjoud : Bild: Tomáš Grečko

Von den Tunneln aus wurden Hunderte von Versuchsbohrungen in alle Richtungen vorgenommen. Rund 10 000 verschiedene Sensoren und Messinstrumente sind darin untergebracht, um festzustellen, welche Kombination ideal ist und wie sich das Gestein um sie herum verhält. Sie überwachen die Temperatur, die Feuchtigkeit und die mikroskopischen Bewegungen des Gesteins. Anhand der über mehrere Jahre gesammelten Daten versuchen sie, die Entwicklung für Tausende von Jahren zu modellieren.

„Die Tunnel sind so gebaut, dass sie die Energie des Erdbebens nicht freisetzen, sondern aufnehmen“, erklärt Jacques Delay, Leiter des Forschungsteams. Das größere Problem, das ein Erdbeben verursachen würde, seien die Gebäude an der Erdoberfläche. Sie seien daher so konzipiert, dass sie auch einem starken Erdbeben standhalten.

Feuer als größtes Risiko

Das größte Risiko ist dem Fachmann zufolge ein Feuer. Für den Fall eines Brandes gibt es in den Tunneln hermetisch verschlossene Räume und spezielle Container, in die sich alle Menschen, die gerade unter der Erde arbeiten, flüchten können. In ihnen befinden sich Wasser und Lebensmittel für mehrere Tage sowie eine separate Toilette. Außerdem hat jeder eine spezielle Tasche mit einem Atemschutzgerät am Gürtel hängen. Der darin enthaltene Sauerstoff reicht für eine halbe Stunde.

Erdbeben und Feuer sind wahrscheinlich die schlimmsten Szenarien, auf die die Wissenschaftler das unterirdische Endlager vorbereiten. Was ist mit einem Terroranschlag? „Das ist nicht unsere Aufgabe, wir sind Wissenschaftler, nicht das Militär“, antwortet der Leiter des Wissenschaftsteams.

Die Abfälle werden nach dem Grad der Reststrahlung in schwach, mittel und hoch radioaktive Abfälle unterteilt. In der Zone mit 22 Tunneln werden die schwach und mittel radioaktiven Abfälle in speziellen Boxen gelagert. Die hoch radioaktiven Abfälle, die in speziellen Zylindern gelagert werden, werden in vertikale Schächte – die „Zellen“ – eingesetzt. Davon wird es bis zu 900 Stück geben. Die meiste Zeit sollen nur Roboter unter Tage arbeiten, Menschen werden nur in den Betriebspausen benötigt.

Bild: Tomáš Grečko

Das Wissenschaftsteam muss herausfinden, wie man eine Überhitzung der Schächte verhindern kann. Die hoch radioaktiven Abfälle erzeugen noch Restwärme, und die unterirdische Lagerung wird in Tongestein erfolgen. Das Material wurde von den Wissenschaftlern ausgewählt, weil es sehr undurchlässig ist und Risse selbst heilen kann, wenn sich welche bilden. Sein Problem ist jedoch, dass er ein schlechter Kühlkörper ist.

Das Team der Wissenschaftler schätzt, dass, wenn man den abgebrannten Kernbrennstoff zuerst abkühlen lässt, wie es heute schon bei Zwischenbecken und Zwischenlagern für Kernbrennstoffe der Fall ist, die Temperatur der gesamten unterirdischen Anlage sechshundert Jahre nach ihrer Verlegung in den Boden ihr Maximum von 90 Grad Celsius erreichen wird. Die Temperatur von bis zu 100 Grad, bei der sich Wasserdampf bilden würde, darf von dem unterirdischen Speicher nicht überschritten werden, und das auch nur mit Hilfe passiver Kühlung. Das bedeutet: keine Belüftung oder Ventilatoren, die ausfallen könnten.

Aktivisten befürchten Lecks

„Alles muss so einfach wie möglich sein“, sagt der französische Ingenieur. Wenn das Endlager spätestens 2050 voll funktionsfähig ist, wird es für weitere hundert Jahre, bis 2150, offen gehalten. Wenn die Menschheit bis dahin noch nicht herausgefunden hat, wie sie mit den radioaktiven Abfällen umgehen soll, wird das Endlager schließlich zubetoniert werden. In Frankreich wurden nur drei Standorte gefunden, die sich als geologische Endlager eignen. Das Dorf Bure, nach dem das unterirdische Labor benannt ist, hat etwa 100 Einwohner. Das ist dreimal weniger als die Zahl der unter Tage arbeitenden Menschen.

In der Mitte des Dorfes steht ein altes, Haus, das die neuen Bewohner „Haus des Widerstands“ (La Maison de résistance) genannt haben. Das Haus wurde zum Hauptstützpunkt der Anti-Atomkraft-Bewegung in Frankreich. Es ist energieautark, und für die Zubereitung der Speisen werden nur lokal angebaute Zutaten verwendet, kein Fleisch, nur Gemüse und Obst, Getreide und Hülsenfrüchte.

Protestschilder an einem Haus im Ort : Bild: Tomáš Grečko

Das Haus wird abwechselnd von Aktivisten aus ganz Frankreich, aber auch aus anderen Ländern bewohnt. Viele von ihnen weigern sich, Journalisten ihre vollständigen Namen zu nennen. „Wir schaffen hier eine neue Welt“, sagen sie auf die Frage, was ihre Hauptaufgabe sei. „Es kann gut sein, dass ich in ein oder zwei Jahren zur Polizei gebracht werde und sie mich zu dem befragen, was ich Ihnen gerade erzählt habe“, sagt Joël Domenjoud, der Koordinator der Bewegung.

Er und andere Bewohner behaupten, dass die französische Regierung die Entscheidung für den Bau des unterirdischen Endlagers auf undurchsichtige Weise getroffen habe, ohne die Bevölkerung ausreichend zu informieren. Aktivisten sagen, dass in dem Labor und dem unterirdischen Lager Lecks entstehen könnten, durch die radioaktive und giftige Stoffe austreten könnten.

Sie befürchten eine Verunreinigung des Grundwassers und dass das gesamte Gebiet unbewohnbar wird. Sie glauben den Argumenten der Wissenschaftler nicht, die untersuchen, wie diese Risiken vor dem Bau des endgültigen Gewölbes beseitigt werden können. Das „Haus des Widerstands“ organisiert in Bure Demonstrationen gegen die Fortsetzung der unterirdischen Versuche. „Wir sind etwa hundert Leute, die Polizei war früher genauso viele, aber sie ist besser bewaffnet, um mit uns fertig zu werden“, sagt einer der Aktivisten. Er hält ein Stück eines Tränengaskanisters hoch, den er im Gras gefunden haben will.

Vorgeschmack für Deutschland

Würden die Arbeiten an dem Endlager eingestellt, wie es die Anti-Atomkraft-Bewegung fordert, würde das Problem der abgebrannten Brennelemente nicht verschwinden. Die Aktivisten haben eine andere Lösung. Sie fordern, dass der gesamte Prozess der Standortwahl von vorne beginnt und gleichzeitig der Betrieb von Kernkraftwerken im Land eingestellt wird, damit kein weiterer Abfall entsteht. Ihrer Meinung nach sollte die Lösung nicht in der Erhöhung der Kraftwerkskapazität, sondern vor allem in der Senkung des Verbrauchs gesucht werden. „Wie sollen die Menschen Energie sparen, wenn sie von Plakaten umgeben sind, die sie auffordern, weiter Geld auszugeben? Zuerst müssen die Plakatwände abgeschaltet werden“, fordert Joël Domenjoud.

Diese Szenerie in Frankreich gibt einen zarten Vorgeschmack auf das, was Deutschland erst noch bevorsteht. Die Bevölkerung hierzulande ist gegenüber der Kernkraft traditionell kritischer eingestellt als die im Nachbarland. Allein die Frage, ob in einer Energiekrise die Laufzeit der drei verbliebenen Kernkraftwerke um wenige Monate verlängert werden soll, hat die erbitterten Debatten der Vergangenheit aufleben lassen und ein Machtwort des Bundeskanzlers notwendig gemacht. Während der Endlagersuche könnte sich das wiederholen. Schnell gehen wird es ohnehin nicht: Erst im Jahr 2031 soll in Deutschland ein Standort feststehen, in Betrieb gehen soll das Endlager im Jahr 2050 – wenn alles glattgeht.