Armutsforscher Butterwegge: „Armut wird verharmlost, Reiche werden geschont“

Wer über den Reichtum nicht sprechen will, sollte auch über die Armut schweigen! Denn wer Armut wirklich bekämpfen will, müsste den Reichtum antasten. Die Abwandlung von Max Horkheimers berühmtem Diktum über den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus trifft die Bundesregierung heute ins Mark. Denn genau beides verweigert die Union/SPD-Koalition, die am Mittwoch ihren Siebten Armuts- und Reichtumsbericht beschlossen hat.

Den ersten Satz haben die Koalitionspartner nicht befolgt, weil sie im „ARB-7“ konsequent vermeiden, über wirklichen Reichtum zu sprechen. Der zweite Satz gilt für sie hingegen nicht, weil ihre Regierungspraxis eher auf Reichtumsförderung als auf Armutsbekämpfung hinausläuft.

Zentraler Inhalt: Verschleierung des Reichtums und Verharmlosung der Armut

Über den exzessiven Reichtum von deutschen und ausländischen Kapitalmagnaten verliert der Regierungsbericht kein Sterbenswörtchen. Weder der Begriff „Milliardär“ noch der Begriff „Multimillionär“ kommt auf seinen mehr als 650 Seiten vor. Das Wort „Millionär“ taucht darin zweimal auf, aber nur im Rahmen der fragwürdigen Spezifizierung als „Einkommensmillionär“. So richtig es methodisch ist, die Armut am geringen Einkommen davon betroffener Menschen festzumachen, so falsch ist es, den Reichtum auf ein hohes Einkommen zu verkürzen.

Denn für diesen ist ein großes (Kapital-)Vermögen konstitutiv, das Arme gar nicht haben. Schließlich können selbst gute Einkommensquellen über Nacht versiegen, wie die Covid-19-Pandemie mit dem ersten bundesweiten Lockdown im März 2020 gezeigt hat, als die Besitzer von Eckkneipen, Geschäften und Fitnesscentern nach dem Sozialstaat riefen, wenn sie keine Rücklagen hatten. Größere Vermögen können aber nicht urplötzlich verschwinden.

Um zu erfahren, dass es in der Bundesrepublik nicht weniger als 256 Milliardäre und Multimilliardäre gibt, von denen nur einer aus Ostdeutschland stammt, muss man ein Sonderheft des Manager Magazins lesen. Um die strukturellen Zusammenhänge zwischen Armut und Reichtum zu verstehen, muss man die Fachliteratur zur sozioökonomischen Ungleichheit heranziehen. Das alles unterlässt der Bericht tunlichst – wohl deshalb, weil die Bundesregierung politisch nicht mit den eher systemkritischen Autor/innen übereinstimmt.

Wer ist arm und wer ist reich? Die kuriose Systematik des Armutsberichts

Einkommensreichtum beginnt im „ARB-7“ bei einem monatlichen Nettoeinkommen von unter 5.000 Euro (Reichtumsschwelle des zweifachen Medianeinkommens nach unterschiedlichen Datenquellen), Vermögensreichtum bei einem Nettovermögen von 500.000 Euro (in Preisen von 2017). Man muss kein Spitzenverdiener oder Hochvermögender sein, um es kurios zu finden, dass ein Oberstudienrat wegen seines monatlichen Nettogehalts von rund 4.500 Euro für einkommensreich und der Besitzer einer kleinen Eigentumswohnung in einer beliebten Großstadtlage für vermögensreich erklärt wird. Wenn so rund 10 Prozent der Bevölkerung als reich gelten, gerät der wirkliche Reichtum aus dem Blickfeld.

Statt des (Klassen-)Gegensatzes von Kapital und Arbeit, der im Regierungsbericht überhaupt keine Rolle spielt, betont dieser lieber den sozialen Gegensatz zwischen Mieter/innen und Vermieter/innen von Wohnungen: „Eigentümer ohne Hypotheken verfügen über ein durchschnittliches Nettovermögen von knapp 700.000 Euro, Eigentümer mit Hypotheken über etwa 530.000 Euro. Dem gegenüber haben Mieter/innen ein durchschnittliches Nettovermögen von knapp 100.000 Euro.“

Hinsichtlich der starken Vermögenskonzentration in Deutschland, die sich nur geringfügig von jener der USA unterscheidet, erkennt die Bundesregierung dann auch keinen akuten Handlungsbedarf. Vielmehr werden die Bürger/innen beruhigt und beschwichtigt: „Nach wie vor besitzen die zehn Prozent der vermögendsten Haushalte 54 Prozent des gesamten Nettovermögens. 2010/11 waren es noch 59 Prozent.“

Die fünf reichsten Familien besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung – davon erfährt man nichts

Dass die fünf reichsten (Unternehmer-)Familien in Deutschland zusammen ein Privatvermögen von 250 Milliarden Euro besitzen und damit mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, immerhin über 40 Millionen Menschen, erfährt man nicht. Von den bekannten Familiendynastien, in deren Händen sich der Reichtum zunehmend konzentriert, taucht sicher nicht zufällig keine einzige im Bericht der Bundesregierung auf.

Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, hat als reichster Mann der Bundesrepublik ein Privatvermögen von 46,5 Milliarden Euro. Klaus-Michael Kühne, zweitreichster Deutscher, kassiert jedes Jahr Dividenden in mehrfacher Milliardenhöhe, auf die selbst dann, wenn er seinen Wohnsitz nicht in die Schweiz verlegt hätte, nur 25 Prozent Kapitalertragsteuer fällig würden. Dem reichsten Geschwisterpaar unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, gehört fast die Hälfte von BMW. Hinzu kommen die Familie Albrecht/Heister als Erb(inn)en der Gründer von Aldi Nord und Aldi Süd sowie die Familie Boehringer/von Baumbach, welcher der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim gehört.

Auch die Namen großer Konzerne, von Groß- und Privatbanken oder von transnationalen Finanzkonglomeraten wie BlackRock finden sich im Regierungsbericht nicht. Dieser ist in Bezug auf die extreme Verteilungsschieflage in der Bundesrepublik Deutschland vielmehr über weite Strecken eine Blackbox.

Reichtumskonzentration führt zu Armut – Zusammenhänge spart der Bericht aber aus

Mit keinem Wort erwähnt wird folgerichtig auch, dass die Konzentration des privaten Reichtums automatisch zu öffentlicher Armut führt. Immer mehr Kommunen der Bundesrepublik sind extrem hoch verschuldet, unterliegen der Haushaltssicherung und können kaum mehr als ihre gesetzlichen Pflichtaufgaben erfüllen, während die öffentliche Daseinsvorsorge sowie die verkehrstechnische, soziale und Betreuungsinfrastruktur vor Ort auf der Strecke bleiben.

Weil der Bund die Reichen nur geringfügig besteuert, steigen außerdem seine Schulden rapide. Gleichzeitig nimmt die soziale Ungleichheit zu, weil Hochvermögende dem Staat sehr viel Geld leihen können und dafür hohe Zinsen kassieren, die der Staat später an ihre Erben zahlen muss. Auch die Schuldenberge werden übrigens nicht – wie immerzu behauptet – an die nächste Generation, sondern eher an die Armen vererbt, bei deren Sozialleistungen man den Rotstift ansetzt.

Über die Armut in Deutschland schweigt der Regierungsbericht zwar nicht, aber er verharmlost sie. Schon der Begriff „armutsgefährdet“, den die Bundesregierung zur Kennzeichnung der Betroffenen verwendet, wirkt verharmlosend, weil es sich bei einem Monatseinkommen von weniger als 1.381 Euro für einen Alleinstehenden schlicht um Einkommensarmut handelt, wenn davon in einer deutschen Großstadt noch Miete gezahlt werden muss, was ja in aller Regel der Fall ist.

Hinsichtlich der Altersarmut findet sich im Siebten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung folgende Relativierung: „Im letzten Fünf-Jahres-Zeitraum von 2017 bis 2021 waren nur sechs Prozent der Menschen in der sozialen Lage ‚Armut‘ über 64 Jahre alt. Dementsprechend war auch der Anteil der Über-65-Jährigen, die in der sozialen Lage ‚Armut‘ sind, mit 11,9 Prozent unterdurchschnittlich. Dieses Bild ist gegenüber dem Zeitraum vom Jahr 2010 bis zum Jahr 2014 kaum verändert (12,7 Prozent).“

Dabei sind die Senior/innen jene Altersgruppe, deren Armutsrisiko seit vielen Jahren am stärksten steigt, was sich durch eine „große Rentenreform“, nach der marktradikale Ökonomen, Wirtschaftsjournalisten und (vor allem junge) Unionspolitiker rufen, kaum ändern, sondern eher verstetigen dürfte.

Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung? Über realitätsferne Regierungsvorstellungen

Riesenvermögen, über die sich der Regierungsbericht ausschweigt, sollen denn auch nicht durch eine ungleichheitssensible und gerechtere Steuerpolitik um- oder an jene rückverteilt werden, die sie als Lohnabhängige geschaffen haben. Vielmehr verbreitet der Bericht die Illusion, die rund 40 Prozent der Bevölkerung ohne nennenswertes Vermögen könnten es selbst aufbauen, wenn sie durch Gesetze zur Vermögensbildung unterstützt werden.

Hingewiesen wird auf das am Ende des Jahres 2023 in Kraft getretene Zukunftsfinanzierungsgesetz, das in den kommenden Jahren „einen wesentlichen Beitrag zur verstärkten Vermögensbildung insbesondere von Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen“ leisten soll. „So wurde die Mitarbeiterkapitalbeteiligung durch verbesserte steuerliche Rahmenbedingungen attraktiver gemacht und die Einkommensgrenzen für den Anspruch auf die Arbeitnehmer-Sparzulagen nach dem Fünften Vermögensbildungsgesetz deutlich erhöht, nämlich auf 40.000 Euro zu versteuerndes Einkommen für abhängig Beschäftigte bei der Einzelveranlagung beziehungsweise auf 80.000 Euro bei der Zusammenveranlagung. Hierdurch wird der Kreis der Bezugsberechtigten deutlich um rund 17 Millionen Personen erhöht auf dann über 35 Millionen Personen.“

Schon während der Nachkriegszeit haben CDU und CSU die „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand“ als Patentrezept gepriesen, ohne die Kluft zwischen Arm und Reich damit auch nur ansatzweise zu schließen.

Auch verteilungspolitisch auf Seiten der Reichen

Verteilungspolitisch steht die Bundesregierung nicht auf Seiten der Armen, sondern eindeutig auf Seiten der Reichen. Das erste größere Gesetzespaket der Union/SPD-Koalition war ein Mitte Juli 2025 auch vom Bundesrat verabschiedetes steuerliches Investitionssofortprogramm, das als „Wachstums-Booster“ bezeichnet wird, weil es hierzulande „qualifizierte Beschäftigung, gute Arbeit und Wohlstand“ sichern soll. „Mit diesem wird eine wirksame Konjunktur- und Wachstumsstimulierung erreicht.“

Eine degressive „Turbo-Abschreibung“ auf bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens von jeweils 30 Prozent in den Jahren 2025, 2026 und 2027 verschafft großen Unternehmen zudem höhere Gewinne, die anschließend geringer besteuert werden, weil der Körperschaftsteuersatz ab 2028 in fünf Jahresschritten von 15 auf 10 Prozent sinkt.

Unter dem christdemokratischen Bundeskanzler Helmut Kohl betrug die Körperschaftsteuer, gewissermaßen die Einkommensteuer der Kapitalgesellschaften (AGs und GmbHs), noch 30 beziehungsweise 45 Prozent, je nachdem, ob die Gewinne ausgeschüttet oder einbehalten wurden. Künftig müssen selbst hochprofitable Konzerne kaum noch Steuern zahlen, wenn sie die Gewerbesteuer durch eine Verlagerung des Firmensitzes in eine Steuerdumping betreibende Gemeinde minimieren. Profitieren werden von den Steuergeschenken der Bundesregierung, die nach ihren eigenen Berechnungen allein bis 2029 über 45 Milliarden Euro kosten, Unternehmer und (Groß-)Aktionäre, deren Vermögen noch wachsen dürfte.

Gegen die weitere Konzentration des Reichtums helfen könnte die Wiedererhebung der seit 1997 ausgesetzten Vermögensteuer, die Bundeskanzler Friedrich Merz im Chat nach seinem ARD-Sommerinterview allerdings mit der die Bevölkerung gezielt irreführenden Begründung ablehnte, das Bundesverfassungsgericht habe sie 1995 für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt.

Dabei haben die Karlsruher Richter/innen seinerzeit nur die Art ihrer damaligen Erhebung als dem Gleichheitsgrundsatz widersprechend zurückgewiesen, weil Grund- und Immobilienbesitz nach veralteten Einheitswerten zu niedrig besteuert wurden. Seit der vom damaligen Bundesfinanzminister Olaf Scholz durchgesetzten Grundsteuerreform des Jahres 2021 lassen sich Immobilien jedoch realitäts- und marktnah bewerten. Deshalb könnte man die Vermögensteuer sofort wieder erheben – tut es aber schon deshalb nicht, weil mächtige Interessengruppen dagegenhalten.

Zwar hat der Union-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn in der TV-Talkshow „Maybrit Illner“ Mitte September 2025 erstmals Diskussionsbereitschaft im Hinblick auf eine Nachschärfung der Erbschaftsteuer für Firmenerben signalisiert, weil das Bundesverfassungsgericht sie demnächst vom Gesetzgeber ohnehin fordern dürfte. Noch immer kann man allerdings einen ganzen Konzern erben, ohne auch nur einen Cent Erbschaftsteuer zahlen zu müssen.

Kein Geld für das Deutschlandticket? Wo die Bundesregierung sparen will

Völlig zu Recht wird die Mobilität im Berichtsentwurf als „eine entscheidende Voraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ bezeichnet. Außerdem stellt er ausdrücklich fest, dass die Haushalte mit sehr niedrigem ökonomischem Status stärker als sämtliche übrigen Haushalte auf den Öffentlichen Personennahverkehr angewiesen sind. Trotzdem fehlen angeblich 300 Millionen Euro, die nötig wären, um den Preis für das Deutschlandticket – wie im Koalitionsvertrag bis zum Jahr 2029 versprochen – stabil zu halten. Darum kostet es demnächst 63 Euro im Monat, obwohl im Regelsatz des Bürgergeldes nur 50,49 Euro für Verkehr enthalten sind.

Bei der Stromsteuer-Senkung, die laut Koalitionsvertrag allen zugutekommen sollte, profitieren entgegen diesem Versprechen nur das produzierende Gewerbe sowie die Land- und Forstwirtschaft. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Steuerpolitik der Union/SPD-Koalition die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, ist die dauerhafte Umsatzsteuersenkung für Gastronomie und Hotellerie, welche den Staat gut 3 Milliarden Euro pro Jahr kostet. Davon profitieren erstens die Systemgastronomie mit ihren Fast-Food-Ketten, zweitens Eigentümer von Luxusherbergen und teuren Restaurants, drittens im Falle der Weitergabe an die Kunden auch Besserverdienende, die es sich leisten können, regelmäßig teuer essen zu gehen.

Trotzdem spricht der Bericht allen Ernstes von einer „verteilungsgerechte(n) Steuerpolitik“ der Bundesregierung, die auf „Entlastungen für die breite Mitte der Gesellschaft und gute Rahmenbedingungen für Investitionen und Innovationen“ orientiert sei: „Die Auswirkungen des demografischen Wandels erfordern dabei einen ausgewogenen und sozial gerechten Steuermix, der insbesondere die Steuer- und Abgabenbelastung geringer und mittlerer Arbeitseinkommen begrenzt.“

Dies, so der Bericht, sichere „Arbeitsanreize und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausreichend Netto vom verdienten Bruttolohn“. Wer so über Armut redet, liefert weniger eine Analyse als eine Ausrede – und stärkt genau jene Verhältnisse, die er angeblich bekämpfen will.

Christoph Butterwegge, Mitglied im Wissenschaftlichen Gutachtergremium für den Siebten Armutsbericht der Bundesregierung, hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher Deutschland im Krisenmodus (Beltz, 2024, 270 S., 24 Euro) sowie Umverteilung des Reichtums (PapyRossa, 2024, 223 S., 16,90 Euro) veröffentlicht.