Armut | Ein Leben, dies keiner ertragen sollte: Katriona O’Sullivan erzählt davon
Es gibt Bücher, die möchte man jedermann empfehlen, und doch hat man Angst, ebendies zu tun. Weil das, was man lesen wird, so unglaublich tragisch und aufwühlend ist. Katriona O’Sullivans Working Class Girl ist so ein Buch. O’Sullivan, Tochter irischer Einwanderer in Großbritannien, hat ein erschütterndes Memoire über ihr Aufwachsen in Armut verfasst.
Wer Malocher-Mythen, rauchende Fabrikschlote oder Arbeiterromantik erwartet, der wird enttäuscht. O’Sullivan erzählt wahrhaft von ganz unten. Von sich und ihren vier Geschwistern, den drogenabhängigen Eltern, von Obdachlosigkeit und Prostitution. Kein Übel, das moderne Gesellschaften hervorgebracht haben, bleibt der Familie erspart.
Schon nach den ersten Kapiteln wird dem Leser klar: „Working Class“ ist ein unbeholfener Terminus für das, was man heute in Deutschland wohl als „Armutsklasse“ bezeichnen würde. Vor allem erzählt Working Class Girl von dem völligen Rückzug des Sozialstaats von jedwedem Versuch, ordnend oder helfend in die Leben der Menschen einzugreifen.
Erschütternde Details
Man liest O’Sullivans Text atemlos – und ist genau deswegen gezwungen, das Buch regelmäßig aus der Hand zu legen. Zu erschütternd sind die Details, die sie darlegt: Immer wieder finden die Kinder die Eltern bewusstlos in ihrem Haus, mit einer Spritze in Bauch, Beinen oder Armen. Regelmäßig muss der Krankenwagen einrücken. Weil der Vater eine Überdosis genommen hat oder die zugedröhnte Mutter in ihrem Badezimmer eine Sturzgeburt erleidet.
O’Sullivan erzählt aus der Perspektive des kleinen Kindes, das all das beobachtet. Die ohnehin furchtbaren Szenen durch die weit aufgerissenen Augen eines kleinen Mädchens zu betrachten, schnürt einem den Hals zu. Jede Faser des Körpers reagiert beim Lesen auf den Schmerz der Kleinen, die man unbedingt in den Arm nehmen möchte. Um sie zu retten – und um sich selbst vor der Wucht der Geschichte zu retten. Keine Ausschmückungen betäuben den Schmerz beim Lesen; alles wird direkt und mit der Vehemenz der Unmittelbarkeit erzählt.
Es gibt sie schon, die Momente der Hoffnung. Die kleine Katriona geht gerne in die Schule. Weil sie wissbegierig ist. Und weil sie hier wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag erhält. Für das Mädchen, das schon mit knurrendem Magen in der Schule ankommt, ist das Überlebenshilfe. Sie hat das Glück, eine liebenswürdige Vorschullehrerin zu haben. Die händigt ihrer Schülerin, die in der Nacht einnässt und mit verschmutzter Unterwäsche in die Vorschule kommt, jeden Morgen frische Wäsche und Lappen aus und bringt ihr bei, wie man sich wäscht.
Man möchte beim Lesen schreien
Doch jede Hoffnung wird sogleich vom Tisch gewischt, wenn man Sätze liest wie: „Bei uns zu Hause war jeder Löffel vom Aufkochen des Heroins schwarz verrußt.“ Im Haus der O’Sullivans gehen Drogendealer und Junkies ein und aus. Die Freunde oder „Onkel“ werden für die Kinder zu normalen Alltagsbegleitern. Als das siebenjährige Mädchen mit „Onkel Bob“ allein im Haus zurückbleibt, macht der sich die Wehrlosigkeit Katrionas zunutze. Als sie schließlich der Mutter aufgewühlt gesteht, was passiert ist, zuckt diese nur mit den Schultern: Bob habe auch sie bereits vergewaltigt.
Man möchte spätestens hier stellvertretend für O’Sullivan schreien. Man möchte wissen, wie eine Mutter so abstumpfen kann. Man möchte wissen, warum niemanden das Leid der Kinder kümmert. Nicht die Sanitäter, die regelmäßig ins Haus gerufen werden. Oder die Polizei, die auf Razzien vorbeikommt. Doch die Polizei selbst ist in die Logik von Missbrauch und Gewalt verstrickt. Etwa wenn sie die Mutter ganz besonders gründlich nach Drogen durchsuchen. Immer und immer wieder.
Die spezielle Mischung aus Machtmissbrauch und völliger Ignoranz der Behörden, welche die Kinder ihrem Schicksal überlassen, macht sprachlos. Warum besucht kein Sozialarbeiter die Familie? Warum interveniert die Schule nicht? Vielleicht lautet die Antwort: Es sind die 80er, es ist die Ära des Thatcherismus.
Man begreift beim Lesen, was es heißt, wenn eine Premierministerin verkündet: „There’s no such thing as society.“ Tatsächlich, es gibt keine Gesellschaft, die sich der Not der Familie annehmen könnte. Man kann sich nur selbst am Schopfe aus dem Morast ziehen. Doch den wenigsten gelingt das Kunststück, das O’Sullivan schließlich vollbrachte.
Das Einzige, was die Lektüre dieses Buches überhaupt erträglich macht, ist die Tatsache, dass O’Sullivan ja vom Ende her erzählt: aus der Position einer Frau, die es – nun wirklich gegen jeden Widerstand – doch noch geschafft hat. Katriona O’Sullivan wurde Psychologin. Sie spricht regelmäßig über ihre Armutserfahrungen, ihre Biografie illustriert auf grausamste Art, was es wirklich heißt, von ganz unten zu kommen.
Ecstasy und Speed
Bevor es für O’Sullivan besser wurde, wurde es jedoch noch sehr viel schlimmer. Obdachlosigkeit, Teenagerschwangerschaft, Drogenabhängigkeit. Die Autorin notiert lapidar: „Bei Ecstasy und Speed machte die ganze Familie mit, sowohl beim Handel als auch beim Konsumieren.“ Wie ein Mensch den nötigen Mut und die Stärke aufbringen kann, all das zu überstehen, das fragt man sich bei der Lektüre allenthalben.
Wenn O’Sullivan sich schließlich Vorwürfe macht, weil sie sich nicht um ihre kleinste Schwester kümmern konnte, die als vernachlässigtes Kleinkind zwischen zugedröhnten Erwachsenen herumkrabbelte, begreift man, wie unendlich machtlos die Armut macht. Wo man nicht gehalten und geliebt wird, wo es keine Ressourcen gibt – seelisch, psychisch, ökonomisch –, wo man alltäglich ums Überleben kämpft, bleibt keine Kraft, um die anderen ins Rettungsboot zu ziehen.
Das ist die Erkenntnis, die man aus diesem Buch mitnimmt: Der tägliche Überlebenskampf erstickt Solidarität und Liebe im Keim. Man kann sich nur selbst halten. Mit viel Glück. O’Sullivan hat ihr Buch ihrem siebenjährigen Ich gewidmet. „Ich hab dich“, versichert sie diesem. Es jagt einem einen kalten Schauer über den Rücken. Man möchte weinen. Man möchte die Welt verändern.
Working Class Girl Katriona O’Sullivan Sylvia Spatz (Übers.) Kjona Verlag 2025, 272 S., 25 €