Arianegroup-Chef Martin Sion oben Ariane 6 und Maiaspace

Herr Sion, das jahrelange Trauerspiel um die Ariane 6 soll ein Ende finden. Was stimmt Sie zuversichtlich, dass die Schwerlastrakete Anfang Juli endlich zu ihrem Erstflug ins All abheben kann?

Ich habe vor einem Jahr die Führung der Arianegroup übernommen. Damals hatten wir noch schwierige und risikoreiche Tests vor uns: mit dem Testmodell der Rakete auf der Startrampe in Kourou in Französisch-Guayana und mit ihrer Oberstufe in Lampoldshausen in Baden-Württemberg. Die Tests verliefen erfolgreich, und wir sind seit sieben Monaten im Zeitplan. Die Teams des Ariane-6-Programms und ich sind jetzt zuversichtlich, Anfang Juli starten zu können. Sehr gut läuft die Zusammenarbeit mit der Europäischen Weltraumorganisation ESA und der französischen Raumfahrtagentur CNES, die für die Startrampe zuständig ist. Der Erstflug der Ariane 6, an der 13.000 Menschen aus verschiedenen Unternehmen mitgearbeitet haben, wird ein symbolträchtiger Moment für Europa sein.

Ursprünglich war er für 2020 geplant. Warum diese Verzögerung?

Dafür gibt es rückblickend viele Gründe, und dann kam auch noch Corona dazu. Die Beschlüsse der europäischen Staaten, die Ariane 5 und die Ariane 6 zu bauen, liegen 26 Jahre auseinander. Das ist sehr viel. Die Leute, die die Ariane 5 gebaut haben, waren dieselben, die schon bei der Ariane 1 bis 4 im Einsatz waren. In diesen 26 Jahren sind Kompetenzen verloren gegangen, die man erst einmal wieder aufbauen musste.

Welche Gründe gibt es aus Ihrer Sicht noch?

Die Staaten haben sich erst sechs Monate vor dem Programmstart auf das technische Design der Ariane 6 verständigt. Die Industrie konnte die Entwicklung dadurch nicht ausreichend vorbereiten und war im Zeitplan zu ambitioniert. Das zog technische Probleme und Mehrkosten nach sich, zumal die Staaten zum Programmstart auch noch das Budget gekürzt hatten. Darüber hinaus wurden die technischen Zuständigkeiten neu definiert, was industrieseitig Anpassungen erforderlich machte. Und die Arianegroup ist zur gleichen Zeit überhaupt erst aus fünf Unternehmenseinheiten von Safran und Airbus mit unterschiedlicher Kultur und Arbeitsweise gegründet worden. Diese Integration dauert bis heute an. Wir sind zum Beispiel immer noch dabei, die Informationssysteme zusammenzuführen.

Martin Sion
Martin SionAFP
Wenn der Erstflug klappt, soll die Ariane 6 Ende dieses Jahres ihren Serienbetrieb aufnehmen und Europas autonomen Zugang ins All wiederherstellen. Wird sie von da an wie geplant drei, vier Mal jährlich abheben?

Ich hoffe öfter! Unser Ziel ist es, so schnell wie möglich mindestens neun Raketen im Jahr ins Weltall zu bringen. Unsere Tochtergesellschaft Arianespace hat bis jetzt Buchungen für 30 Starts. Nun müssen alle Partner und Zulieferer mitspielen und ihre Produktion hochfahren. Zugleich entwickeln wir schon jetzt eine leistungsstärkere Version der Ariane 6, die durch die Verbesserung der Booster und der Schubkraft des Oberstufentriebwerks wettbewerbsfähiger werden soll.

Bislang gilt die Ariane 6 nicht als wettbewerbsfähig. Wäre sie es, hätten die Mitgliedstaaten im Herbst in Sevilla wohl kaum die jährliche Subvention auf 340 Millionen Euro erhöht. Welche Chancen räumen Sie der Rakete auf dem kommerziellen Markt ein?

Die Ariane 6 muss vier institutionelle Starts im Jahr für die ESA, die Europäische Kommission, den europäischen Wettersatellitenbetreiber Eumetsat oder die Mitgliedstaaten durchführen. Zusätzlich müssen wir auf dem kommerziellen Markt fünf oder mehr Starts verkaufen, das macht insgesamt also mindestens neun Starts im Jahr. So wurde das Modell mit der ESA entworfen. Um in der aktuellen Situation mit der Inflation, die die gesamte Industrie getroffen hat, einen Ausgleich zu finden, ist man zu der erwähnten Unterstützung in Höhe von 340 Millionen Euro gekommen. Die Anfragen für Raketenstarts, die Arianespace heute erhält, stimmen mich ziemlich zuversichtlich, dass wir künftig Aufträge für neun Flüge im Jahr erhalten und somit ein funktionierendes Geschäftsmodell haben werden. Zumal wir uns zugleich als Industrie verpflichtet haben, unsere Kosten um 11 Prozent zu senken. Das Ariane-Modell war nie darauf ausgelegt, wie manche Wettbewerber Dutzende Starts im Jahr zu haben.

Wie viele Jahre kann die Ariane 6 in Betrieb bleiben?

Heute gibt es eine gültige Vereinbarung der Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2031. Es ist zu früh, über die Zeit danach zu sprechen. Ganz ehrlich, dass eine Trägerrakete, die noch nicht geflogen ist, schon 30 Starts in den Auftragsbüchern hat, ist bemerkenswert. Meine Aufgabe ist nun, den Produktionshochlauf zu schaffen, unsere bestehenden Kunden zufriedenzustellen und neue Kunden unter den in Sevilla festgelegten Bedingungen zu gewinnen. Und dann werden wir sehen, wie die Unterstützung der Mitgliedstaaten aussieht und welche Position am Markt die Ariane 6 einnehmen wird.

Von den 30 Starts entfallen allein 18 auf Amazon, aber wie viel Sie damit einnehmen, haben Sie nie veröffentlicht. Schätzungen zufolge hat Space X mit seinen wiederverwendbaren Falcon 9-Raketen weniger als halb so hohe Kosten je Start wie Sie mit der Ariane 6. Werden Sie diesen Abstand zumindest etwas verringern können?

Arianespace macht ihre Preispolitik nicht öffentlich. Was zählt, ist, dass wir ein solides Auftragsbuch haben. Wir müssen weiter daran arbeiten, die Kosten zu senken und unseren Auftragsbestand auszubauen. Ich bin zuversichtlich.

13 Länder in Europa sind neben Ihnen, der ESA, der CNES und den übrigen nationalen Raumfahrtagenturen an der Entwicklung und Produktion der Ariane 6 beteiligt. Braucht es auf organisatorischer Seite nicht eine tiefgreifende Strukturreform, um auf den sich weiter verschärfenden Wettbewerb mit Space X zu reagieren?

In Sevilla haben die Staaten mehrere Entscheidungen getroffen. Eine davon war die Unterstützung der Ariane 6, die sehr deutlich ist. Zugleich haben die Staaten beschlossen, dass es künftig einen Wettbewerb zwischen den Trägerraketen in Europa geben soll. Das ist eine Reform, auf die wir als Arianegroup mit der Lancierung des Maia-Projekts reagieren: eine Minirakete, die unsere Tochtergesellschaft Maiaspace entwickelt.

Sind Sie mit den Beschlüssen von Sevilla also einverstanden?

Ich bin nicht derjenige, der die Regeln aufstellt. 40 Jahre lang gab es, von der ESA organisiert, einen Geist der Zusammenarbeit, der Europas Raumfahrt durch Höhen und Tiefen geführt hat. Die Ariane 6 wird weiter in diesem Geist der Zusammenarbeit betrieben werden. Daneben haben sich die Mitgliedstaaten für den Wettbewerb entschieden. Es ist klar, dass Maiaspace anders an die Dinge herangeht. Sie verfügt über einen großen Spielraum, um die Trägerrakete so zu entwickeln, wie sie es für richtig hält. Ich sehe die Vorteile des Wettbewerbs. Zweifelsohne fördert er Innovationen. Ich möchte nur daran erinnern, wie wichtig es ist, dass die Mitgliedstaaten und die ESA ein Umfeld schaffen, das Zusammenarbeit weiter möglich macht.

Die deutschen Start-ups Isar Aerospace und Rocket Factory Augsburg entwickeln schon länger kleine Trägerraketen und stehen kurz vor dem Erstflug. Sind Sie sicher, mit Maia zu ihnen aufschließen zu können?

Sie haben früher angefangen, das ist richtig, aber die Ansätze sind unterschiedlich. Für Maia werden existierende technische Bausteine verwendet, insbesondere das Prometheus-Triebwerk, das die Arianegroup im Auftrag der ESA für alle interessierten europäischen Akteure entwickelt hat. Maiaspace ist dafür der erste Kunde. Ich bin zuversichtlich, dass sie ihren Rückstand aufholen werden. Maiaspace arbeitet auf eine völlig andere Art und Weise als die Arianegroup und hat Kompetenzen aus ganz anderen Industrien zusammengeführt, etwa aus dem Maschinenbau oder der Softwareentwicklung.

Dass Maiaspace eine Tochtergesellschaft der Arianegroup ist und deren gut ausgestattete Infrastruktur nutzt, ist unter Wettbewerbsgesichtspunkten nicht unbedingt fair. Ebenso wenig die Tatsache, dass der französische Staat Maia angeblich mit rund 300 Millionen Euro unterstützt.

Über diese Summe habe ich nie gesprochen und werde es auch hier nicht tun. Ich möchte nur betonen: Maiaspace hat neben anderen Start-ups im Rahmen des France 2030-Programms im Wettbewerb einen Dienstleistungsvertrag gewonnen, der Ziele enthält, die Maiaspace erreichen muss.

Beim deutschen Wettbewerb für die Entwicklung kleiner Trägerraketen floss in Summe nur eine niedrige zweistellige Millionensumme. Finden Sie Sorgen vor Wettbewerbsverzerrungen vor diesem Hintergrund nicht verständlich?

Wenn es grenzüberschreitende Ausschreibungen für Dienstleistungsverträge gäbe, würde sich Maiaspace wohl auch da bewerben. Die Frage ist doch, wie wir es schaffen, dass Europa so schnell wie möglich die beste Produktpalette im Trägerraketenbereich erhält. Ich werde mich darum bemühen und fände es unangebracht, so zu tun, als wäre es ein Wettbewerb zwischen Frankreich und Deutschland. Es ist ein Wettbewerb zwischen europäischen Industrieunternehmen, und Arianegroup ist ein deutsch-französisches Unternehmen.

Etwas mehr als die Hälfte Ihrer Belegschaft arbeitet in Ihrer Rüstungssparte. Ist das der Geschäftsbereich, mit dem die Arianegroup in Wahrheit ihr Geld verdient?

Wenn man bedenkt, wie die Ariane 6 die Finanzen der Arianegroup belastet hat und auch in den kommenden Jahren noch belasten wird, wird klar, dass vor allem das Geschäft mit unseren ballistischen M51-Raketen in Frankreich für Stabilität sorgt.

Liegt in diesem Geschäftsbereich angesichts der Schwierigkeiten in der Raumfahrt auch die Zukunft der Arianegroup?

Das Geld, das wir in Maiaspace investieren, zeigt unseren Glauben daran, auf dem Markt für Weltraum-Trägerraketen weiter erfolgreich zu sein. Ich hoffe sehr, dass auch die Ariane 6 noch lange betrieben werden kann. Aber bei schweren Trägerraketen ist es nicht einfach, vorherzusagen, wie das wettbewerbliche Umfeld aussehen wird. Unabhängig davon möchten wir nicht zuletzt parallel unsere Aktivitäten im Bereich Verteidigung ausbauen, vor allem im Bereich der Hyperschallanwendungen.

Sie deuteten unlängst Expansionsbestrebungen im Rüstungsgeschäft nach Deutschland an.

Wir haben unsere Verteidigungsakti­vitäten in der Vergangenheit nicht genug hervorgehoben und immer nur von der Ariane-Rakete gesprochen. Das möchte ich ändern. Deshalb stellen wir auf dem ILA-Stand auch zum ersten Mal unsere M51-Rakete aus. In Deutschland haben wir schon Verteidigungsaktivitäten etwa in Trauen, wo wir unter anderem Rettungssysteme für U-Boote herstellen. In Ottobrunn betreiben wir eine Weltraumüberwachungsstation und ein Zentrum für Verbundwerkstoffe, die den hohen Temperaturen widerstehen, die in den Brennkammern von Rake­tentriebwerken benötigt werden. Dieses Know-how könnte man auch im Bereich der Verteidigung nutzen. Wenn es neue europäische Programme geben sollte, bei denen Frankreich, Deutschland und andere Länder zusammenarbeiten ­wollen, ist die Arianegroup mit ihrer ­zutiefst deutsch-französischen Aus­richtung meiner Meinung nach ein guter Akteur.

Zur Person

Der Franzose Martin Sion (55 Jahre) ist seit April 2023 Chef des Luft- und Raumfahrtkonzerns Arianegroup . Zuvor war der Absolvent der Ingenieurhochschule École centrale Paris Chef der Elektronik- und Rüstungssparte des französischen Triebwerkherstellers Safran. Dieser hält wie Airbus 50 Prozent der Anteile an der Arianegroup, die rund 8000 Mitarbeiter zählt, davon knapp 1200 in Deutschland, und zivile sowie militärische Produkte herstellt. Mit Sions Berufung an die Konzernspitze sollte die um Jahre verzögerte Entwicklung der Ariane 6 zum Abschluss gebracht werden. Der Markt für Trägerraketen ist hart umkämpft, neben Elon Musks Space X setzen auch zahlreiche europäische Start-ups wie Isar Aerospace oder die Rocket Factory Augsburg die Arianegroup unter Druck.