Apple-Doku „Mr. Scorsese“: Von wegen toxische Männlichkeit – Scorsese zeigt Empathie!
Er prägte das Kino der letzten 50 Jahre wie kaum ein anderer und blieb doch lange der ewige Außenseiter: Martin Scorsese. Die Dokuserie „Mr. Scorsese“ erzählt von einem Mann, der mit 82 Jahren immer noch auf der Suche ist
Manches gelang ihm nicht so gut. Warum das für „Gangs of New York“ gilt, erzählt Martin Scorsese in der Doku recht offen
Foto: Apple TV+
Als Martin Scorseses Kollegen Francis Ford Coppola, George Lucas und Steven Spielberg ihm im Jahr 2007 den Oscar als bester Regisseur für The Departed überreichten, war „Endlich!“ der Tenor der Berichterstattung. Es blieb der erste und einzige Regie-Oscar, den der 1942 in New York Geborene bis heute erhalten hat. Was ihn in eine Reihe bringt mit Alfred Hitchcock, Robert Altman oder David Lynch: alles Regisseure, die ganze Generationen beeinflusst haben, aber bei den Oscars größtenteils leer ausgingen.
Wie lässt sich so eine Einschätzung eigentlich bemessen? Was Kassenerfolge angeht, fällt Scorsese weit hinter den genannten Kollegen des „New Hollywood“ zurück, und auch die Budgets, die ihm zum Filmemachen zur Verfügung standen, konnten sich lange nicht mit dem messen, was ein Spielberg ausgeben durfte. Scorsese selbst litt unter diesem vermeintlichen Zurückbleiben hinter den anderen. In der fünfteiligen Dokumentarserie Mr. Scorsese, die nun auf Apple TV zu sehen ist, spricht Scorsese es zwar nicht aus, aber die Rastlosigkeit, die man ihm in jeder Gesprächssituation anmerkt, und der Ärger, den er als einen ständigen Begleiter seines Lebens beschreibt, sprechen für sich.
Auf der einen Seite ist Mr. Scorsese lediglich eine weitere der vielen Celebrity-Dokumentationen, mit denen seit einiger Zeit vor allem die Streaming-Portale ihr Programm bestücken. In enger Kooperation mit dem Star im Zentrum entstanden, leisten die Dokus und Serien meist wenig über den bloßen Fan-Service hinaus. Auf der anderen Seite gelingt der Regisseurin Rebecca Miller wohl gerade wegen ihrer speziellen Nähe zu Scorsese – sie ist die Ehefrau von Daniel Day-Lewis – etwas Besonderes. Ihre Doku-Serie führt vor Augen, wie wechselvoll die Karriere von Scorsese verlaufen ist, von wie vielen Rückschlägen sie gekennzeichnet war, aber eben auch, wie nachhaltig die Wirkung seiner Filme doch bis heute ist.
Der Regisseur von „Taxi Driver“ ist ein „Girl Dad“
Daniel Day-Lewis, der in Zeit der Unschuld (1993) und Gangs of New York (2002) Hauptrollen spielte, gehört zur relativ klein gehaltenen Anzahl der Personen, die Miller als „Zeugen“ aussagen lässt. Wobei sein wohl eindrücklichster Beitrag keine Schilderung der eigentlichen Zusammenarbeit mit Scorsese ist, sondern eine Jugenderinnerung: Scorseses Film Taxi Driver habe ihn damals als knapp 20-Jährigen so geflasht, dass er ihn gleich in den ersten Wochen nach Start fünf- oder sechsmal angeschaut habe.
Die Figur des „Underground Man“, wie ihm Robert De Niro in Taxi Driver Gestalt verleiht, scheint heute, in Zeiten von „Incel Culture“ und „Manosphere“, aktueller denn je. Die Ausschnitte aus Scorseses Frühwerk, die in der Doku-Serie zitiert werden, zeigen, mit wie viel Verständnis und, ja, Empathie Scorsese immer wieder das porträtiert hat, was wir heute als „toxische Männlichkeit“ abqualifizieren.
Wenn man ihn hier aus der Kindheit erzählen hört, vom eigenen Vater und Großvater und von den anderen Männern in der von Mafia-Umtrieben geprägten Umgebung seiner frühen Jugend, merkt man, wie tief sein Interesse und seine Neugier gehen und wie wenig es mit Verherrlichung oder Posieren zu tun hat. Sicher, in der Mehrzahl seiner Filme stehen Männerfiguren im Zentrum, und trotzdem hat er mehr Schauspielerinnen (im ganzen zehn) als Schauspieler (neun) zu einer Oscar-Nominierung geführt. Ein wenig kann man schmunzeln über die Tatsache, dass seine Nachkommenschaft aus drei Töchtern (von drei verschiedenen Müttern) besteht. Alle drei lässt Miller zu Wort kommen; sie malen nicht gerade das Bild eines idealen Vaters, sind ihm aber doch sämtlich in Liebe zugetan.
Doch nicht eventuelle Enthüllungen (sein Kampf mit der Drogensucht) oder vorher nie Gesehenes aus dem Privatleben (sein Zusammenleben mit einer stark von Parkinson gezeichneten Ehefrau) machen Mr. Scorsese unbedingt sehenswert. Es ist vielmehr der Fluss von vielen einzelnen Beobachtungen. Man assoziiert mit dem Namen Scorsese eine bestimmte Sorte von Film, aber man vergisst, wie oft er Tonlage und Thema gewechselt hat. Dass ihm nicht alles gelungen sei – zum Beispiel Gangs of New York, bei dem er sich von Produzent Harvey Weinstein stark eingeschränkt sah –, gibt Scorsese mit großer Offenheit zu. Am Ende fasziniert genau das: Scorsese ist ein Regisseur, der mit 82 Jahren noch nicht fertig ist mit seinem Werk.