Anzeigen wegen Volksverhetzung: Wer verhetzt hier wen?

Nehmen wir Bundeskanzler Friedrich Merz. Er ist wegen seiner Aussagen zum „Stadtbild“ gleich mehrfach angezeigt worden: von einem Grünen-Ratsmitglied aus Castrop-Rauxel, einer Anwältin aus Hamburg und von mindestens einer Privatperson in Berlin. Die Anwältin hat sogar einen handlichen Mustertext für eine Strafanzeige gegen Merz wegen Volksverhetzung auf Instagram verbreitet. In Berlin-Neukölln hat der lokale CDU-Chef den Fraktionschef der lokalen Linken angezeigt, weil dieser den israelischen Bürgermeister einer Partnerstadt als „Völkermörder“ beschimpft hatte. Die FDP in Meerbusch reichte eine Anzeige wegen Volksverhetzung ein, nachdem das Gesicht einer Kandidatin auf einem Wahlplakat verunstaltet worden war. In Fürth wurde der Betreiber einer Pizzeria aufgrund eines israelfeindlichen Aushangs wegen Volksverhetzung angezeigt, in Sebnitz ein Dachdecker wegen rassistischer Aussagen in einer Stellenanzeige. Leben wir in einem Land der Volksverhetzer?

Als bräuchte es noch einen Beleg, dass eine Anzeige wegen Volksverhetzung inzwischen nicht nur ziemlich alltäglich, sondern auch eine Waffe gegen jedermann geworden ist, sei noch der katholische Pfarrer von Erding erwähnt, der sich einer entsprechenden Anzeige erwehren musste, nachdem er die AfD-Chefin Alice Weidel in einer Predigt scharf attackiert hatte. Und natürlich darf in dieser Reihe nicht der Gründer und Chefredakteur der Onlineplattform Nius fehlen, Julian Reichelt. Er geriet in den Blick der Staatsanwaltschaft, nachdem er einen Beitrag auf X zur angeblichen Unterwanderung der Polizei durch Deutsche mit Migrationshintergrund abgesetzt hatte. Volksverhetzung hatte ihm auch schon mal der Queer-Beauftragte des Landes Berlin vorgeworfen – und Reichelt angezeigt.

Was all diesen Anzeigen gemein ist: Sie waren nicht stichhaltig, sie hatten nicht genug Substanz. Einige haben nicht einmal zu einer Ermittlung geführt, und jene, die noch nicht eingestellt sind, werden es in naher Zukunft mit großer Sicherheit sein. Der Rechtsstaat funktioniert bis hierher. Aber mit jeder unbegründeten Anzeige festigt sich ein Eindruck: Einzelne Bürger, auch Politiker und sogar einige staatliche Institutionen versuchen erstaunlich häufig, einen Konflikt für sich zu entscheiden, indem sie den Vorwurf der Volksverhetzung (Paragraf 130 im Strafgesetzbuch) erheben.

Der Publizist Alan Posener hat kürzlich daran erinnert, dass der SPD-Kanzler Willy Brandt von einem politischen Gegner aus der CSU mit Adolf Hitler verglichen wurde, ohne dass eine Anzeige folgte. Es ist also nicht verwegen, zu behaupten, dass Aussagen, die auch früher unangenehm, hässlich und schwer erträglich waren, die im politischen Meinungskampf aber ausgehalten wurden, heute zunehmend die Staatsanwaltschaften und manchmal die Gerichte beschäftigen.

Suchen Menschen hier Zuflucht im Strafrecht, um den zivilen Umgang untereinander zu verteidigen? Um ihre Moralvorstellungen durchzusetzen? Oder einfach um den Kampf für das Gute zu führen? Es schwingt in jedem Fall ein Sofortismus mit, ein Sehnen nach einer besseren Welt. Her damit! Natürlich sind auch niedere Motive denkbar wie die dunkle Freude, einen politischen Gegner zu beseitigen, oder die Lust zu strafen. Aber egal, ob Macht oder Ohnmacht, Wut, Berechnung, Verzweiflung oder Idealismus dazu führen, dass Anzeigen wegen Volksverhetzung so unangenehm jetzig sind: Es ist an der Zeit, zu fragen, ob die Maßstäbe verrutscht sind und was daraus folgt.

Verwandelt sich vor unseren Augen die Volksverhetzung, die als letztes Mittel, als ultimative Waffe gegen die Feinde der Demokratie ersonnen wurde, in eine weitverbreitete und kaum zu kontrollierende Handfeuerwaffe, die sich jeder Bürger in die Schublade legen kann? Damit sie rasch zur Hand ist, wenn ein anderer ätzt und pöbelt, hämisch wird und demagogisch zuspitzt?

Der Paragraf 130 ist stets ein Spiegel seiner Zeit gewesen und richtete sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst gegen alles, was nach Klassenkampf und Sozialismus aussah. Die junge Bundesrepublik wollte ihre fragile freiheitliche Grundordnung im beginnenden Kalten Krieg unbedingt nach Osten absichern und sich zugleich bescheinigen, wie eng sie sich an den Westen bindet.