Anschlag von Magdeburg: Am Jahrestag stillstehen die Betroffenen im Vordergrund

Acht Uhr, die Ernst-Reuter-Allee in der Magdeburger Innenstadt. Zu viert heben Polizisten eine stählerne Straßensperre an, um einer Straßenbahn auf ihrer Fahrt Durchlass zu gewähren. An jeder Ecke stehen Polizisten, dazu Ordnungsamt und private Sicherheitsdienste. Erweiterte Parkverbotszonen, Hamburger Gitter. Die Innenstadt ist fast leer, die Geschäfte – bis auf die Bäckereien – noch geschlossen.

Am späten Vormittag bahnen sich die Besucher eines ökumenischen Gottesdienstes ihren Weg durch die polizeilichen Absperrungen rund um die Johanneskirche. Der MDR überträgt den Auftakt dieses Gedenktages, der sich in Choreografien durch den ganzen Tag zieht. Ungewöhnlich für einen Gottesdienst: Zutritt erhält nur, wer sich zuvor namentlich angemeldet hat, mit Armband und Einlasskontrolle.

Nicht nur weil am Nachmittag Bundeskanzler Friedrich Merz und Ministerpräsident Reiner Haseloff zu der offiziellen Gedenkveranstaltung erwartet werden, sind die Sicherheitsvorkehrungen in der Innenstadt an diesem Tag gegenüber jenen, die seit Wochen für den Weihnachtsmarkt gelten, noch einmal verstärkt worden. Erkennbar geht es auch darum, staatliche Schutz- und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.

Monatelanger Streit um den Weihnachtsmarkt

Am 20. Dezember 2024 tötete Taleb A. mit einem SUV sechs Menschen und verletzte über dreihundert. Der Jahrestag des Anschlags findet auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg zwischen politischer Wundversorgung, stillem Gedenken und Event-Tourismus statt.

Der unmittelbar gegenüber der Kirche gelegene Weihnachtsmarkt hat dabei heute aus Respekt vor den Opfern und Betroffenen geschlossen. Darum, dass er überhaupt und am selben Ort – wie in allen Jahren zuvor – auf dem Alten Markt stattfindet, gab es monatelang Streit. Für manche Angehörige der Getöteten ist die Vorstellung, dass der Weihnachtsmarkt am gleichen Ort eröffnet, unerträglich.

Hinzu kam, dass in den Tagen vor seiner Eröffnung die Aufsichtsbehörde des Landesverwaltungsamtes das Sicherheitskonzept des Marktes als unzureichend bemängelte. Ein fatales politisches Signal. In dem Konflikt vermittelte schließlich die Staatskanzlei. Der Weihnachtsmarkt konnte wie geplant öffnen. Doch Händler sprechen von Umsatzeinbußen im Vergleich zu den Vorjahren. Gänzlich unbeschwert besucht wohl kaum jemand dieses Jahr den Markt.

Zwei Zeitrechnungen in Magdeburg

Gegen Mittag füllt sich die Innenstadt mit Menschen, die ihren Weihnachtseinkäufen nachgehen. An diesem Jahrestag des Anschlags tritt deutlich hervor, dass in der Stadt zwei Zeitrechnungen in Kraft sind: die Zeit jener, für die durch und nach dem Anschlag nichts mehr ist, wie zuvor. Und jene, für die der Alltag nach einer Zeit des Innehaltens weiterging. Aber es gibt einen Ort, an dem diese Zeitrechnungen zusammenfinden: der Platz vor der Johanneskirche. Hier legten Menschen das ganze Jahr über Blumen nieder, zündeten Kerzen an, Kinder brachten bemalte Steine und Kuscheltiere.

Vor dem Portal der Kirche ergaben sich wiederkehrend Gespräche zwischen Betroffenen und den Besuchern, die Anteil nahmen am Schicksal der Opfer. Das Ringen darum, was angemessenes Gedenken sei, begleitete die Stadt durch das vergangene Jahr. Inzwischen sind einige Ideen verwirklicht. An einer Zuwegung zum Alten Markt, über die der Täter mit seinem SUV raste, gibt es Gedenkplatten mit den Namen der sechs Todesopfer. Zudem gibt es seit einigen Tagen einen Gedenkstein, dessen Inschrift an die Tat erinnert.

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Doch Konflikte um die Art und Weise des Gedenkens bleiben. Ein geplantes Theaterstück mit dem Arbeitstitel „Drei Minuten“ ruft schon vor seiner Fertigstellung Protest und den Vorwurf hervor, das Theater profiliere sich auf Kosten der Opfer des Anschlags. Die Vorwürfe werden ungeachtet ihrer Haltlosigkeit beständig wiederholt von rechtsextremen Kreisen, die vorgeben, für die Hinterbliebenen zu sprechen. Viel Vermittlungs- und Kommunikationsarbeit leistete die Leitung des Magdeburger Theaters, diese Vorwürfe geduldig auszuräumen. Sie bemühte sich darum, das Vertrauen derer zu gewinnen, die bleibend von den Ereignissen gezeichnet sind.

AfD instrumentalisiert den Anschlag – ohne Rücksicht auf Betroffene

Rechte Event-Touristen sehen am Jahrestag derweil ihre Stunde gekommen, Magdeburg zur Kulisse für ihre politische Botschaft nehmen. Videostreamer laufen durch die Stadt, offerieren Passanten Interviews mit suggestiven Fragen zu Migration, zur Bundespolitik, zum allgemeinen Gefühl der Unsicherheit, welches sie selbst schüren. Neonazis aus dem Harz nehmen für ein Video-Shooting am Gedenkstein Aufstellung, ein Aktivist hat in der Innenstadt eine Wandermahnwache unter dem Leitwort „Magdeburg wach auf“ angemeldet.

Wie aus dem Nichts tauchen Leute am Gedenkstein auf, etwa ein in braunes Leder gekleideter Mann in seinen 60ern mit rheinischem Akzent. Er schimpft lauthals auf „die Politiker“. Eine Magdeburgerin stimmt ein, lobt die AfD als einzigen Ausweg. Deswegen, so der Herr, „trage ich einen blauen Rucksack.“

Zu einem großspurig angekündigten „Trauermarsch“ der „Patriotischen Bewegung“ finden sich ganze 35 Teilnehmer aus der rechten Szene ein.

Parallel nehmen am Nachmittag Vertreter der AfD Sachsen-Anhalt am Gedenkort Johanneskirche Aufstellung. Neben einem Kranz und Blumen haben sie auch ihnen nahestehende Medien mitgebracht. Der Moment des Innehaltens währt nur kurz. Noch auf dem Platz schalten sie in den Wahlwerbemodus. Nur die AfD sei Garant für Veränderungen im Land, dessen Misere man umstandslos der Masseneinwanderung im Allgemeinen und den afghanischen Ortskräften im Besonderen anlastet. Spitzenkandidat Ulrich Siegmund verkündete in den Wochen zuvor, er wolle die AfD in eine Alleinregierung führen. Einen Tag vor dem Jahresgedenken schenken er und seine Mitstreiter gegen Spende auf dem Weihnachtsmarkt Glühwein an Besucher aus.

Im vergangenen Jahr hatten einen Tag nach dem Anschlag noch über tausend Neonazis in der Stadt demonstriert. Ihre Aktivitäten stehen diesmal nicht im Vordergrund.

Merz ohne Phrasen, Rufe von rechten Event-Touristen

Das offizielle Gedenken prägt die Stadt. Am späten Nachmittag beginnt so in der Johanneskirche auch die Magdeburger Gedenkveranstaltung. Geladen sind Angehörige der Toten, Betroffene des Anschlags, Ersthelfer, Sanitäter, Polizisten und Notfallseelsorger. Als Bundeskanzler Merz in Begleitung von Ministerpräsident Haseloff den Weg über die Jakobstraße zur Kirche nimmt, werden Rufe laut: „Verpiss dich!“, „Herr Merz, wann beenden Sie die Masseneinwanderung?“, „Wir wollen dich hier nicht“.

Es sind nicht Angehörige und Betroffene, die so rufen. Es sind jene Event-Touristen, die wissen, wann sie sich wo für solche Szenen positionieren müssen, um in rechten Online-Portalen dann von „Tumulten“ und der „Wut der Bürger“ sprechen zu können.

Die Kirche ist jetzt, anders als beim Gottesdienst am Vormittag, bis auf den letzten Platz besetzt. Vor der Kirche haben sich etwa 2.500 Menschen vor einer Großbildwand versammelt, um der Gedenkveranstaltung zu folgen. Der MDR-Rundfunkchor singt. Dann kommen Angehörige zu Wort. In bewegenden Worten schildert etwa die Erzieherin Susanne Staab den Verlust ihrer Mutter, der Oma ihrer Kinder am 20. Dezember 2024. Nichts, so die erfahrene Pädagogin, sei in ihrem Leben mehr, wie zuvor. Ihre Kinder hätten nur einen Wunsch: „Die Rückkehr von Oma Rita.“

„Lassen Sie uns nicht allein“

Mit fester Stimme mahnt Staab die Unterstützung der Politik für die Betroffenen des Anschlags an. Immer wieder hatte es im Laufe des Jahres Ungereimtheiten in der Kommunikation und in der Koordination der Hilfen gegeben. „Lassen Sie uns nicht allein“, ruft Staab den anwesenden Politikern zu. Es ist den Statements der Betroffenen des Anschlags anzumerken, wie sehr ihre Zeit aus den Fugen geraten ist. Die körperlichen Wunden mögen langsam heilen. Die seelische Wundversorgung, von der eine Notfallseelsorgerin spricht, ist in keiner Maßeinheit der Zeit zu messen.

Das macht auch der pensionierte Domprediger Giselher Quast in seiner moderativen Einleitung deutlich. Quast, den ältere Magdeburger als furchtlosen Streiter der Demokratie-Bewegung des Jahres 1989 kennengelernt hatten, spricht den versammelten Menschen Mut zu, das Geschehen auf dem Weihnachtsmarkt 2024 als Aufgabe kollektiven Erinnerns anzunehmen.

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Ministerpräsident Haseloff stellt in seiner Rede den Dank an die Retter und Helfer in den Vordergrund. Danach obliegt die politische Wundversorgung Bundeskanzler Friedrich Merz. Er hebt zu einer sehr kurzen, aber prägnanten Ansprache an, die das Leid der Opfer und Betroffenen des Anschlags in den Mittelpunkt rückt. Er kommt ohne Phrasen aus. Im Falle von Fehlern im Umgang mit den Opfern müsse umgehend nachgearbeitet werden, sagt er. Dazu wolle er beitragen.

Initiativen, Wohlfahrtsverbände und Schüler verteilen Kerzen

Am Abend endet die offizielle Veranstaltung. Das stille Gedenken, auf das viele Magdeburger vor der Kirche und rund um den Weihnachtsmarkt gewartet haben, beginnt mit dem Entzünden von Tausenden Kerzen. Helfer vom „Bündnis solidarisches Magdeburg“, den Wohlfahrtsverbänden und aus Schülergruppen hatten diese zuvor verteilt.

Es bildet sich eine Menschen- und Lichterkette um den Alten Markt, den Ort des Anschlags. Um 19.03 Uhr, dem Zeitpunkt des Beginns der tödlichen Fahrt, läuten die Glocken aller Kirchen der Stadt. Ein stiller Moment des Innehaltens. Ersthelfer und Betroffene umarmen einander. Kurz danach fährt die erste Straßenbahn. Der Alltag setzt wieder ein.