„Anora“: Erst dieser Rausch, dann dieser Kater
Das ist ein sonderbarer Film, man weiß nach dem Anschauen nicht,
ob man ihn misslungen oder gelungen findet, aber das ist ja vielleicht auch
nicht das Schlechteste, was sich über einen Film sagen lässt. Er wurde bei der diesjährigen Ausgabe des Filmfestivals in Cannes mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, der Goldenen Palme.
Anora erzählt
von einer gleichnamigen Sexarbeiterin (Mikey Madison), die ihr Geld in einem Club in Brighton
Beach am südlichen Ende von Brooklyn verdient. Sie macht sich gut gelaunt
an die männlichen Gäste heran, trinkt mit ihnen und tut dann dieses und jenes,
und schließlich sitzt sie auf ihnen drauf und reibt sich mit ihrem Hintern an
ihren Gemächtern. Dazu läuft ein rasender Soundtrack aus Hip-Hop- und
Trap-Musik.
Alles beginnt wie ein nicht endender Rausch, aber schon die Musik
deutet an, dass an der ganzen Sache etwas nicht stimmt. Denn im Trap liegen
unter den aufgekratzten Gesängen ja immer diese sonderbaren bleiernen Bässe,
die auf den verschlungenen Wegen der Popmusik aus dem Codein-Rap der
Nullerjahre in die Partymusik der Gegenwart hineingeraten sind: Der schwere
Schädel, der Kater, die Depression am Morgen nach dem Exzess sind hier
schon gleich mitzuhören; man ahnt also, wenn man nicht nur sieht, sondern auch
hört, ab der ersten Einstellung von Anora, dass das alles nicht gut enden wird.
Erst einmal aber gerät alles noch toller, wenn nicht gar: wie in
einem Traum. Es tritt ein junger Prinz auf die Szene, der sich in Anora
verliebt und ihr das Blaue vom Himmel verspricht. Ivan (Mark Eydelshteyn) ist der Sohn eines
russischen Oligarchen und lebt in einer fantastischen Villa, wo der Reichtum
monströs ist und die Partys nie enden. Anora und Ivan haben zunächst für beide
wohl gleichermaßen beglückenden Sex, dann fliegen sie nach Las Vegas, um sich
dort trauen zu lassen. Leider nur bekommen Ivans Eltern Wind von der Sache, und
sie beauftragen zwei ihrer Mittelsmänner in New York damit, die ungewollte
Verbindung wieder auflösen zu lassen: Garnick, einen orthodoxen Priester, der
sich deswegen spontan aus einer von ihm durchgeführten Taufzeremonie
verabschieden muss, und Igor, einen melancholischen Schläger, der sich während
der gesamten folgenden Geschehnisse sichtlich immer wieder fragt, wie er da
hineingeraten konnte.
Die folgenden Geschehnisse, das umschließt: Scherereien und
Katz-und-Maus-Spiele in der am Ende komplett demolierten Villa des Oligarchen;
eine Verfolgungsjagd durch sämtliche Partyorte des nächtlichen Brooklyn; und
vor allem allerlei Männer, die sich zu Deppen machen gegenüber einer nicht zu
beugenden Frau.
Mikey Madison spielt ihre Anora mit souveränem Witz und Spaß machender Kraft, sie lacht, kreischt und faucht sich durch die Geschichte, die
immer irrere Haken schlägt, und zu fast keinem Zeitpunkt erweckt sie den
Eindruck, dass sie sich von dem Priester und seinem Schläger, von dem vor
seinen Eltern schließlich den Schwanz einziehenden Millionärssöhnchen, von all
der über ihr einbrechenden patriarchalen Gewalt irgendwie aus der Rolle bringen
lässt. Zu fast keinem Zeitpunkt – auf das „fast“ kommt es an, denn es gibt dann
eben doch einige, sehr wenige, sehr eindrucksvolle Momente, in denen die
komödiantische Gewalt in echte Gewalt umschlägt, in denen aus der souveränen
Heldin in einer lächerlichen Männerwelt dann eben doch wieder ein Opfer wird.
Der Regisseur Sean Baker wurde zuvor mit sozialrealistischen
Studien bekannt, in Anora enttäuscht er vorderhand sämtliche Erwartungen, die
deswegen an seinen neuen Film herangetragen werden könnten. Dafür hat er zu
viel Spaß an der Künstlichkeit und Selbstbezüglichkeit seiner Geschichte mit
ihren immer neuen Wendungen, an den Screwball-Comedy-haften Dialogen,
schließlich an der Transformation zunächst abziehbildhafter Nebenfiguren in
psychologisch ambivalente Charaktere, die sich zudem bei ihrem Treiben selbst
immer amüsierter zu beobachten scheinen (großartig: Yuriy Borisov als Igor).
Ist das noch witzig?
Sie
alle spielen sich nachträglich in jenen Rausch, den die Eröffnungsszenen
filmisch und musikalisch vorgeben. Aber die interessantesten Stellen sind dann
eben jene, an denen der Rausch plötzlich einer unangenehmen Nüchternheit
weicht, an denen der ganze Film kippt und sich infrage stellt: Ich erzähle
hier vom Patriarchat und vom Daseinskampf einer Frau in gewaltförmigen
Verhältnissen – und ich erzähle das in der Form einer Komödie, aber ist das noch witzig, was ich
hier tue, und ist es der Situation angemessen?
Der Film Anora führt seine Zuschauer
auf viele falsche Fährten, und er beobachtet sich dabei, wie er das tut. Das
kann man angesichts der Schwere des Themas zu wenig finden oder auch gerade
richtig, weil die schockhafte Irritation einer eingeübten Erwartung intensiver
wirkt als die vorhersehbar schlecht gelaunte Kritik der Verhältnisse. Ganz am
Ende, in den letzten zehn Minuten, als alle Messen gesungen und alle Träume
zerplatzt sind und auch die rauschhafte Musik nun erlischt – an diesem Ende
findet sich Anora dann doch noch in die stille, depressive und psychologisch
scheinbar tiefe Ästhetik eines konventionellen Arthouse-Films ein, und das fand
jedenfalls ich beim Verlassen des Kinos die eigentliche Enttäuschung.
„Anora“ läuft in den deutschen Kinos.
Das ist ein sonderbarer Film, man weiß nach dem Anschauen nicht,
ob man ihn misslungen oder gelungen findet, aber das ist ja vielleicht auch
nicht das Schlechteste, was sich über einen Film sagen lässt. Er wurde bei der diesjährigen Ausgabe des Filmfestivals in Cannes mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, der Goldenen Palme.
Anora erzählt
von einer gleichnamigen Sexarbeiterin (Mikey Madison), die ihr Geld in einem Club in Brighton
Beach am südlichen Ende von Brooklyn verdient. Sie macht sich gut gelaunt
an die männlichen Gäste heran, trinkt mit ihnen und tut dann dieses und jenes,
und schließlich sitzt sie auf ihnen drauf und reibt sich mit ihrem Hintern an
ihren Gemächtern. Dazu läuft ein rasender Soundtrack aus Hip-Hop- und
Trap-Musik.