Anna Jermolaewa: „Das nehme ich Putin persönlich übel“

DIE ZEIT: Frau Jermolaewa, wie schafft man sechs Telefonzellen aus Traiskirchen auf die Kunstbiennale nach Venedig?

Anna Jermolaewa: Es war eine glückliche Fügung: Die Kabinen standen vor dem Flüchtlingslager in Traiskirchen und sollten ohnehin abgebaut werden, weil sie im Zeitalter der Handys kein Mensch mehr benutzt. Und dann sind sie mit dem Boot den ganzen Canal Grande entlanggefahren!

ZEIT: Sie sind 1989 als politischer Flüchtling aus Leningrad nach Österreich gekommen, jetzt gestalten Sie den österreichischen Pavillon auf der Biennale. Warum war es Ihnen wichtig, dort diese Telefonzellen zu zeigen?

Jermolaewa: In einer dieser Kabinen habe ich im Mai 1989 meine Eltern angerufen und ihnen gesagt: Ich bin in Sicherheit. Vorher wussten sie wochenlang nicht, wo ich bin – nur, dass ich und mein damaliger Mann Richtung Polen geflohen sind.

ZEIT: Sie und Ihr Mann waren in der Sowjetunion bekannte Dissidenten, Sie haben die erste oppositionelle Partei „Demokratische Union“ mitgegründet – und plötzlich finden Sie sich in Traiskirchen wieder. Wussten Sie denn, wo Sie da gelandet sind?

Jermolaewa: Irgendwo bei Wien. Was lustig ist, weil die Stadt schon vor unserer Flucht eine Rolle gespielt hat. Die Behörden in der Sowjetunion haben wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ gegen uns ermittelt. Unser Fall war aufsehenerregend, es sickerten ständig falsche Informationen durch. Einmal kamen wir in Leningrad in ein Café, und alle schauten uns verblüfft an: „Im Radio wurde gerade gesagt, ihr wärt nach Wien ausgewiesen worden!“

ZEIT: Kurze Zeit später sind Sie eher zufällig nach Österreich gekommen, weil eine Fluchthelferin in Polen eine Bustour zum Shopping nach Wien für den besten Weg Richtung Westen hielt.

Jermolaewa: Wir mussten weg, um einer Verhaftung zu entgehen. Wir hatten gehört, dass es jemandem gelungen war, über Polen nach Westberlin zu kommen. Bei uns klappte das nicht, aber es öffnete sich eine Option, nach Wien zu gelangen. Dort sind wir zur amerikanischen Botschaft gegangen, um Asyl zu beantragen. Man hat uns weggeschickt, weil wir das in Österreich machen mussten. Nur hatten uns einige Leute vor der Polizei gewarnt: Fragt bloß nicht, wo ein Flüchtlingslager ist, die weisen euch sofort aus. Also schliefen wir eine Woche ohne Geld und Essen auf dem Westbahnhof.

ZEIT: Auch das ist Teil Ihrer Biennale-Ausstellung: Sie haben sich beim Versuch gefilmt, noch einmal auf diesen unbequemen Bänken zu schlafen.

Jermolaewa: Das Video ist 2006 entstanden, und ich habe festgestellt, dass es schwieriger geworden ist, weil jetzt Armlehnen die Sitzbank unterteilen. Dabei habe ich diese Bänke schon 1989 gehasst. Wir wollten per Autostopp weiter nach München, aber wurden an der Grenze bei Salzburg festgenommen und nach Traiskirchen geschickt.

ZEIT: Die Erfahrungen im Erstaufnahmezentrum …

Jermolaewa: Ich sage weiter Flüchtlingslager. Wenn man es anders nennt, ändert das für die Menschen dort doch nichts. Mein erster Job in Österreich war Putzfrau. Und ich weiß, dass die Frauen jetzt als Reinigungskraft auch nicht besser unterwegs sind.

ZEIT: Die Zeit in Traiskirchen haben Sie in einer Audio-Installation verarbeitet, in der ständig der Ausruf „Essen! Essen! Mjam mjam!“ aus einem Lautsprecher dröhnt. Wurden Sie so behandelt?

Jermolaewa: Wir waren in einem Familienzimmer untergebracht, 40 Menschen in Doppelbetten. Dreimal am Tag wurden wir so zum Essen gerufen. Und, ja, es war wirklich, wirklich schlimm. Menschenunwürdig. Die Toiletten hatten keine Türen. Mein Ehemann hat sich immer ganz breit vor mich hingestellt, damit die anderen Männer nicht glotzen konnten.

ZEIT: In Ihrem Werk spielen Sie Teile Ihrer Biografie nach. Warum teilen Sie Ihre persönliche Geschichte auf diese Art und Weise?

Jermolaewa: In Venedig zeige ich zwei Arbeiten, die von meiner Fluchterfahrung handeln: die Telefonzellen und das Video vom Westbahnhof. Das zeige ich aber nicht, um auf mich aufmerksam zu machen, sondern stellvertretend für so viele Menschen auf der Flucht, damals und heute. Es geht mir darum, Empathie zu schaffen für Geflüchtete.