Angriffe hinaus Politiker in Europa: Wenn Politik lebensgefährlich wird

Noch ist das Motiv des Attentäters, der auf den slowakischen Premier Robert Fico geschossen hat, nicht abschließend geklärt. Klar ist jedoch, dass der Mordversuch an dem linkspopulistischen Regierungschef in einer Zeit der politischen Konfrontation geschieht. In den vergangenen Monaten gab es mehrere Großdemonstrationen der Opposition gegen Ficos Pläne, die Unabhängigkeit der Justiz und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu untergraben. Fico hingegen warf den liberalen Kräften vor, ein Klima zu schaffen, in dem eine Gewalttat geschehen könne. Auch in anderen Ländern Europas werden politische Debatten mit zunehmender Schärfe geführt, während Politiker Drohungen und Anfeindungen ausgesetzt sind. Ein Überblick über die Situation in Europa.

Polen: Wahlkampf sollte keine Kampfzone sein

In Polen
ist die Angst vor einer ähnlichen Gewalttat wie in der Slowakei groß.
Zumal es in der Vergangenheit bereits politische Morde gegeben hat. Der
tödliche Angriff auf Paweł Adamowicz, den liberalen Bürgermeister von
Danzig, liegt nur fünf Jahre zurück. Der 26-jährige Stefan W., der
Adamowicz erstochen hat, wurde Anfang dieses Jahres zu
lebenslanger Haft verurteilt. W. sagte aus, er sei von der staatlichen
Fernsehpropaganda beeinflusst worden, die Adamowicz, der der Opposition
angehörte, während der Regierung der nationalkonservativen Partei Recht
und Gerechtigkeit immer wieder angegriffen hatte.

Nach dem
Anschlag auf Robert Fico rufen Politiker in Polen zur Mäßigung in der
öffentlichen Debatte auf. „Ein Wahlkampf, ob für europäische oder das
polnische Parlament, ist keine Kampfzone“, sagte der Leiter des Nationalen Sicherheitsbüros des polnischen Präsidenten Jacek Siewiera. „Unsere Sicherheitsdienste sollten aus der politischen Debatte, die
leider oft über den gesunden Menschenverstand hinausgeht, lernen und die
Wachsamkeit in Bezug auf den physischen Schutz der Personen, stärken.“

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Frankreich: Vier von zehn Bürgermeistern wurden schon bedroht

Wer in Frankreich einen Politiker sehen will, braucht
häufig ein Fernglas: Regierungsmitglieder und Oberbürgermeisterinnen werden von
bulligen Leibwächtern und starren Geländern abgeschirmt. Wie kaum ein anderes europäisches Land fürchtet Frankreich den nächsten Aufstand – die
gewaltsam beendeten Proteste der Gelbwesten, die Revolte der Jugendlichen im
vergangenen Sommer, haben ihre Spuren hinterlassen. Der Präsident Emmanuel Macron gehört zu den
unbeliebtesten Staatschefs in der Geschichte des Landes. Zudem schürt die rechte Politikerin Marine Le Pen immer weiter den Hass auf Macron und die etablierten Parteien. Angeblich, so behauptet sie stets, sei Frankreich im Niedergang begriffen und stehe kurz vor der Übernahme durch zugewanderte Menschen.

Um mit täglichen Aggressionen ihrer Wählerinnen und Wähler
fertig zu werden, besuchen französische Bürgermeister inzwischen sogar
Fortbildungen. Dort erzählen sie von Beschimpfungen, von zerstochenen Reifen,
vom Mittelfinger, der ihnen vor dem Rathaus entgegengereckt wird. Vier von
zehn Bürgermeistern wurden laut einer Umfrage der Zeitung Le Monde im vergangenen Jahr physisch bedroht oder erhielten Drohbriefe, ebenso viele
wurden beleidigt. Manch einer von ihnen ist deshalb schon zurückgetreten. Oder
zeigt sich seltener in der Öffentlichkeit.

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Großbritannien: Abgeordnete erhalten Mord- und Vergewaltigungsdrohungen

Im Vereinigten Königreich
sind in den vergangenen Jahren zwei Politiker ermordet worden: Im Juni 2016
wurde die Labour-Abgeordnete Jo Cox im Rahmen der nationalistischen
Brexit-Debatte von einem Rechtsextremisten erschossen; im Oktober 2021 wurde
der Abgeordnete der Konservativen David Amess während der Sitzung in seinem
Wahlkreis von einem Migranten erstochen. Die Fälle sind die Folge einer sich in
den vergangenen Jahren dramatisch verhärteten und polarisierten politischen
Diskussion in der britischen Politik. 

Abgeordnete erhalten Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, müssen feindselige Demonstrationen
vor ihren Privathäusern erdulden, werden auf dem Weg durch die Straßen verfolgt
und eingeschüchtert und erleben, wie ihre Büros in den Wahlkreisen mit
blutig-roter Farbe beschmiert werden. Backsteine fliegen durch die Scheiben.
Manche Parlamentarier tragen mittlerweile sogenannte Paniksender zur Polizei, haben
Polizeischutz oder haben – wie der Abgeordnete Mike Freer – sich
entschlossen, die Politik zu verlassen. Freer hatte zahlreiche Morddrohungen
erhalten, Molotowcocktails vor seinem Büro gefunden und letztlich entschieden,
die ständige Gefahr sei es nicht mehr wert. Die Gewaltandrohungen kommen von
beiden Seiten des politischen Diskurses. Rechtsextremisten greifen etwa muslimische Politiker wie den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan an, der in
seiner Laufbahn mehr als 30 000 extremistische und rassistische Drohungen
erhalten hat. Propalästinensische Demonstranten versammelten sich hingegen vor dem Privathaus des Abgeordneten und Oppositionsführers Keir
Starmer
, um ihn für seine proisraelische Position zu kritisieren.

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Spanien: Regierungschef denkt über Rücktritt nach

Als „Vaterlandsverräter“ und „Hurensohn“ beschimpft die konservative Opposition den Regierungschef Pedro Sánchez. Der Vorsitzende der rechtspopulistischen Vox-Partei, Santiago Abascal, prognostizierte dem sozialistischen Premier sogar eine Zukunft am Galgen. Und bei den Protesten gegen die Amnestie für die katalanischen Separatisten im Herbst verprügelten und verbrannten Demonstranten eine Pappmaschee-Figur mit dem Antlitz des Premiers. Die aggressive politische Stimmung – und eine auf Fake-News basierende Anzeige gegen seine Frau – hat Pedro Sánchez zuletzt laut über Rücktritt nachdenken lassen.

Doch trotz aller verbalen Entgleisungen: Zu tätlichen Angriffen hat diese Polarisierung in Spanien bislang nicht geführt. Als im November vergangenen Jahres ein Mann in Madrid auf offener Straße dem Rechtspolitiker und Mitbegründer der Vox-Partei, Alejo Vidal-Quadras, ins Gesicht schoss, spekulierte man in den sozialen Medien zunächst über innenpolitische Motive. Vidal-Quatras, der das Attentat überlebte, vermutet hingegen einen Zusammenhang mit seiner langjährigen Unterstützung für iranische Oppositionsgruppen. Demnach könnte das iranische Regime hinter dem Anschlag stecken.

Ein Grund, warum die Hemmschwelle zu physischer Gewalt gegen Politikerinnen hoch ist, ist leidvolle Erfahrung des ETA-Terrorismus. Bis zum endgültigen Waffenstillstand mit der baskisch-separatistischen Terrororganisation im Jahr 2011 waren Politiker der beiden großen Volksparteien, der sozialistischen PSOE und der konservativen PP, immer wieder Opfer von Attentaten geworden: 38 Stadträte, Senatoren, Parteifunktionäre wurden zwischen 1975 und 2011 ermordet, meist per Kopfschuss.

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Italien: „Tausch deine Jacke lieber mit einer schusssicheren Weste“

Auch in Italien wächst im Wahlkampf die Aggressivität – vor allem verbal. Dabei kommen die Angriffe sowohl von links als auch von rechts. Sei es aus Frustration über die eigene Lage, aus Unmut gegenüber der erstarkten Rechten oder gegenüber einer als zu woke empfundenen Linken. „Tausch deine Jacke lieber mit einer schusssicheren Weste.“ Diese Drohung findet sich Anfang der Woche unter einem Beitrag von Roberto Gualtieri auf dessen Instagram-Kanal, in dem der Bürgermeister von Rom über Projekte im Brennpunkt-Bezirk Tor Bella Monaca spricht. Einen Tag später wird auf der Turiner Buchmesse der Schriftsteller Stefano Massini körperlich angegangen, als er sein Buch über den Aufstieg des Nationalsozialismus vorstellte. Nach Drohungen wurde Mitte Februar dem Chef der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt Rai, Roberto Sergio, vom Innenministerium eine Eskorte zugeteilt. Sergio hatte seine Solidarität mit Israel bekundet.

Im Vergleich zu früheren Dekaden leben Politiker und Personen des öffentlichen Lebens in Italien aber vergleichsweise sicher. Die Anfeindungen sind nicht vergleichbar mit der Situation in den Achtziger- und Neunzigerjahren, während deren die kommunistische Terrororganisation Rote Brigaden zahlreiche Mordanschläge verübte. Der bekannteste Fall: die Entführung und Ermordung von Ex-Ministerpräsident Aldo Moro im Jahr 1978.

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Griechenland: Schlägerei im Parlament

Yanis Varoufakis, Griechenlands umstrittener Ex-Finanzminister, saß im März 2023 gerade in einem Athener Restaurant, da fing eine Gruppe von Männern an, ihn von der Straße aus anzupöbeln. Varoufakis ging nach draußen, dann bekam er Schläge. Die Schläger sollen dabei Varoufakis vorgeworfen haben, Griechenland in der Schuldenkrise 2015 ans „Ausland verscherbelt“ zu haben, sagte Varoufakis in einer Stellungnahme. Er wurde mit gebrochener Nase und mehreren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Kurz danach akzeptierte der linke Politiker, der heute der kleinen Partei DiEM25 vorsitzt, Polizeischutz.

Das ist längst nicht der einzige Vorfall dieser Art. Im April dieses Jahres wurde die Abgeordnete der regierenden Partei Nea Dimokratia, Angeliki Delikari, von einer Frau in einer Kirche geschlagen, da sie für die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt hatte. Sie habe Berichten zufolge zur konservativen Niki-Partei gehört, die der griechisch-orthodoxen Kirche nahesteht.

Und zwei Abgeordnete hatten sich am Ende des vergangenen Monats im Parlament geprügelt, worauf der Abgeordnete der Partei Griechische Lösung, Vassilis Grammenos, mit Verletzungen im Gesicht ins Krankenhaus gebracht wurde.

Dabei haben sich die Debatten zuletzt nicht nur um einzelne Angriffe zwischen Politikern oder Gruppen gedreht, sondern auch um die systematische Einschüchterung von Opposition und auch kritischer Berichterstattung in der Regierungszeit von Nea Dimokratia. 2022 erschütterte die sogenannte Predator-Affäre das Land. Die Regierung soll dabei mit einer speziellen Predator-Software Oppositionspolitiker und Journalisten abgehört haben. Erst im Februar schlug das EU-Parlament erneut Alarm. Die Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in Griechenland sei gefährdet, heißt es in einer Entschließung des Parlaments.

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Schweden: Die Leichtigkeit ist dahin

Jedes
Jahr im Juni trifft sich das politische Stockholm auf der Ostseeinsel
Gotland, in der alten Wikingerstadt Visby. Eine Woche lang werden Reden
gehalten, Podiumsdiskussionen geführt, wird über die Zukunft Schwedens
diskutiert. Ein Festival für die Demokratie soll es sein, einst
gegründet vom wohl berühmtesten Ministerpräsidenten des Landes, Olof Palme. Die führenden Politiker des Landes kommen, die Beamten, die
Zivilgesellschaft. Doch die Leichtigkeit der Veranstaltung ist dahin,
seit vor zwei Jahren ein Einzeltäter mit neonazistischem Hintergrund
eine Frau mit einem Messer attackierte und diese kurze Zeit später im
Krankenhaus starb. Knapp zwei Monate später wurde bekannt, dass er
geplant hatte, auch die damalige Vorsitzende der liberalen
Zentrumspartei, Annie Lööf, in Visby zu ermorden. Lööf hatte schon lange
rechte Hetze angeprangert und sich immer wieder gegen die
rechtspopulistische Partei der Schwedendemokraten positioniert. Als die
Drohungen gegen sie auch im Wahlkampf nicht abrissen, gab sie kurz nach
den Reichstagswahlen im September 2022 ihren Rücktritt bekannt.

Der
Nachname des Täters von Visby, Engström, zieht eine zufällige Parallele
in die Vergangenheit. Es ist der gleiche wie der des Mannes, der als mutmaßlicher Mörder von Olof Palme gilt. Palme wurde im Februar 1986 auf offener
Straße erschossen. Das Attentat wurde zum nationalen Trauma, über viele
Jahre prägte es die öffentliche Debatte, wie einzelne Personen mit
zentralen Funktionen in der Gesellschaft besser geschützt werden können.

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