Angriffe hinauf Russland: Gut, wohl nicht gut genug

Endlich eine gute Nachricht für die Ukraine: Nachdem US-Präsident Joe
Biden sich entschieden hat, den ukrainischen Streitkräften Schläge gegen
russische Stellungen im Grenzgebiet nahe Charkiw zu erlauben, hat sich die Bundesregierung ebenfalls dafür ausgesprochen. Auch deutsche Waffen dürfen nun –
so hat es der Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag bestätigt –, auf russischem
Territorium in Grenznähe eingesetzt werden
.

Dieser Politikwechsel kommt spät, und er ist nicht
weitreichend genug. Dennoch, die Feststellung ist angebracht: Danke, Olaf Scholz! Der Bundeskanzler handelt sich mit dieser Wende nämlich eine erhebliche
Komplikation seines Friedens-Wahlkampfs ein. Er macht sich kurz vor der
Europawahl angreifbar von links- und rechtspopulistischen „Friedensfreunden“. Es
ist auch damit zu rechnen, dass Putin die Angst vor
der nuklearen Eskalation weiter anheizen wird. Und schließlich wird Olaf Scholz in seiner
eigenen Partei, die längst müde von der Zeitenwende ist, kaum Begeisterung auslösen.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass der
Strategiewechsel erst nach quälenden Monaten des Bettelns durch die Ukraine erfolgte.
Briten, Franzosen, Balten, Schweden und schließlich selbst Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatten lange geworben, die Einschränkungen aufzuheben, die
die Ukrainer de facto wehrlos machten.

Seit Langem ist bekannt, dass die russische Luftwaffe die
desaströsen Angriffe mit Gleitbomben unbehelligt aus dem eigenen Luftraum
heraus führte – weil die ukrainische Flugabwehr dort nicht aktiv werden durfte.
Und dass die russische Artillerie vollkommen gefahrlos vom eigenen Territorium schießen
konnte – wegen eben jener Restriktionen westlicher Unterstützer, die nun immerhin
teilweise aufgehoben worden sind.

Zahlreiche ukrainische Soldaten und Zivilistinnen haben diese
Zögerlichkeit mit dem Leben bezahlt. Das erklärt die Bitterkeit Wolodymyr Selenskyjs: „Ich denke manchmal, die Russen lachen über die
Situation. Für sie ist das, wie jagen zu gehen. Eine Jagd auf Menschen. Sie
wissen, dass wir sie sehen, aber nicht erreichen können“, sagte er dem britischen Guardian.

Warum wurde diese Situation so lange geduldet, bis die
Ukraine an Rand der Katastrophe geriet? Erst die Frucht vor einem russischen
Durchbruch an der Front brachte das Umdenken, denn der würde das Scheitern der westlichen
Strategie offenlegen.

Die besteht bekanntlich darin, die Unterstützung immer nur inkrementell
zu steigern, in winzigen Schritten, um eine russische Eskalation zu verhindern.
„Boiling the frog“ wurde dieses Vorgehen genannt – den Frosch kochen, indem man
die Wassertemperatur so langsam erhöht, dass er es kaum bemerkt. Das hat nicht
funktioniert. Wer Koch ist, und wer Frosch, das ist vor diesem möglicherweise
entscheidenden Sommer schwer zu sagen.

Der russische Durchbruch ist immer noch möglich, auch wenn der
Vormarsch auf Charkiw gebremst wurde. Die US-amerikanischen Waffen aus dem
monatelang verzögerten Hilfspaket sind zum großen Teil noch nicht an der Front
angekommen. Das Gleiche gilt für die vom tschechischen Präsidenten Petr Pavel organisierte
Artilleriemunition, deren erste Tranche erst im Laufe des nächsten Monats erwartet
wird. Dann erst – ebenfalls Monate später als geplant – sind auch die ersten
F-16 Kampfjets aus Dänemark, den Niederlanden und Belgien zu erwarten. Nun
heißt es auch über diese Flugzeuge, sie dürften Ziele auf russischem
Territorium angreifen. Gut so.

Noch besser wäre es, wechselnde Einsatzregeln nicht jedes
Mal detailliert in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Denn es widerspricht nicht
nur jeder Militärdoktrin, sondern auch dem gesunden Menschenverstand, dem Feind
permanent zu telegrafieren, wo genau man seine roten Linien vermutet, und was
man alles auf keinen Fall tun wird – nur um sich dann immer wieder korrigieren
zu müssen.

Der Westen muss aufhören, sich von Russland treiben zu
lassen. Es konnte zuletzt der Eindruck entstehen, dass die USA und Deutschland,
die beiden wichtigsten Unterstützer, einen ukrainischen Erfolg fast noch mehr
fürchten als einen russischen Sieg – wegen Putins Nukleardrohungen. Diese
Drohungen sind skandalös. Sie sind ernst zu nehmen. Es muss ihnen vereint und
mit Festigkeit entgegengetreten werden. Aber die Angst vor der Eskalation zum Maßstab des eigenen Handelns
zu machen, wirkt paradoxerweise ebenfalls eskalatorisch, weil der Gegner sich dann
allzu sicher fühlen kann. 

Die Aufhebung einiger Restriktionen für den Gebrauch
westlicher Waffen ist ein Schritt in die Richtung, die der französische
Präsident Emmanuel Macron seit Monaten vorgibt: strategische Ambiguität. Die Gegenseite darf
sich nicht sicher sein, dass es keine Kosten hat, wenn sie immer weiter
eskaliert. Allerdings: Dieser Wandel von der Selbstabschreckung zur
Abschreckung müsste jetzt auch mit den weitreichenden Fähigkeiten unterlegt werden,
die die Ukrainer brauchen, um ihn umzusetzen.