Amazon: Das Kindle zu Händen die Generation TikTok soll den Alexa-Fluch unterwerfen – WELT

Amazon hat seinen E-Book-Readern die größten Veränderungen seit vielen Jahren verpasst. Dabei hat der Online-Gigant seinen Stammlesern auch einen sehnlichen Wunsch erfüllt. Die größten Kindle-Hoffnungen setzt der Konzern jetzt aber in die Jugend.

An diesem Dienstagmorgen hat Amazon nichts dem Zufall überlassen. Im „The Shed“, einer lichtdurchfluteten Kunsthalle in New York, scheint die Sonne durch die großen Deckenfenster. Hier hat der US-Onlinehändler seine neuesten E-Book-Reader ausgelegt, die sogenannten Kindle. Die Geräte erstrahlen wortwörtlich im besten Licht. Denn je heller die Umgebung, desto besser lässt es sich auf den Readern lesen.

Mit der neuen Generation hat Amazon jetzt die größten Veränderungen seit vielen Jahren vorgestellt. Vor allem das Premium-Modell kann mit erstaunlichen Funktionen aufwarten. Daneben hat Amazon seinen Stammlesern den sehnlichsten Wunsch erfüllt.

Einen Erfolg in seiner Gerätesparte kann der Konzern dringend gebrauchen. Während sich das Geschäft mit der Spracherkennung „Alexa“ bislang nie wirklich bezahlt gemacht hat, erscheint das Geschäft mit den E-Book-Readern besonders vielversprechend. Die größten Hoffnungen setzt Amazon jetzt ausgerechnet in die Generation TikTok.

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Vier Geräte präsentierte der Konzern in New York. Dazu zählt zum ersten Mal ein Modell mit Farb-Display: der Kindle Colorsoft. „Wir wollten schon immer Farbe auf das Kindle bringen“, sagte Kevin Keith, zuständiger Produktmanager bei Amazon, im Gespräch mit WELT. Es sei der meistgenannte Wunsch von Kunden gewesen. „Doch Farbe kann ein ziemlich schwieriges Thema sein“, sagte Keith.

Über Jahre hinweg habe der Konzern an der Technik getüftelt. Der Bildschirm des Colorsoft verfügt über einen neuen Lichtleiter mit sogenannten Nitrid-LEDs.

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Darüber kann das Gerät Farben darstellen, ohne zu verwischen oder zu verpixeln, anders als etwa bei Smartphone-Displays. Außerdem ist das Gerät wasserdicht und eignet sich somit auch für die Badewanne oder den Strand.

Kindle Scribe ist mehr als nur ein E-Book-Reader

Die wohl bedeutendsten Fortschritte hat Amazon aber bei seinem Flagschiffmodell vorgestellt: dem Kindle Scribe, der kein bloßer E-Book-Reader ist, sondern ein digitales Notizbuch. Nutzer können Anmerkungen jetzt direkt in den Text oder an den Rand eines Buches schreiben. Bislang ging das nur über ein kompliziertes Notizfenster. Zudem eignet sich das Scribe auch für Skizzen. Möglich macht das ein überarbeiteter digitaler Stift mit Radierer.

Das Display hat eine verbesserte papierähnliche Textur, sodass sich das digitale Schreiben tatsächlich täuschend echt anfühlt und sogar anhört, wie ein erster Test mit den Geräten zeigte. Amazon habe dafür Dutzende Designansätze gebraucht.

Weil sich die Spitze des Stifts beim Schreiben abnutzt, legt das Unternehmen fünf Ersatzköpfe bei. „Wir haben versucht, einem Buch so nahe wie möglich zu kommen“, sagte Keith.

Des Weiteren hat der Online-Gigant neue KI-Funktionen vorgestellt, die auf den Scribe-Modellen verfügbar sein sollen. Per Klick können Nutzer ihre krakeligen Notizen in eine schöne Schreibschrift aufbereiten oder mithilfe von KI zusammenfassen lassen. Amazon setzt dabei auf mehrere sogenannte Large Language Models (LLMs), die Daten werden verschlüsselt in der eigenen Cloud verarbeitet.

Vorerst sind die Funktionen aber nur in den USA und auf Englisch verfügbar. Außerdem haben Nutzer noch keine Möglichkeit, bei den automatisierten Zusammenfassungen einzelne Notizen zu priorisieren.

Und auch auf KI-Zusammenfassungen von Büchern müssen Scribe-Besitzer wohl noch warten. Im Vorhinein hatten viele gehofft, künftige Modelle könnten mithilfe von KI auch individuelle Fragen zu Buchinhalten beantworten.

Neue Version des Kindle Paperwhite

Zusätzlich hat Amazon eine überarbeitete Version seines beliebtesten E-Book-Readers, dem Paperwhite, auf den Markt gebracht. Das Gerät hat neuerdings einen 7-Zoll-Bildschirm und soll das bislang schnellste Modell sein.

Nutzer können bei dem Gerät die Seiten rund 25 Prozent zügiger wechseln als bei der Vorgängervariante. Zudem verspricht der Konzern das höchste Kontrastverhältnis aller Kindle-Geräte, ebenso eine Batterielaufzeit von drei Monaten.

Mit den neuen Geräten will Amazon das Momentum nutzen. Zuletzt habe der Konzern die höchsten Verkaufszahlen seit einem Jahrzehnt verbuchen können, heißt es. Große Hoffnungen setzt der Online-Gigant ausgerechnet in die junge Generation. „Was wir sehen, ist eine Verschiebung hin zu noch jüngeren Menschen“, sagte Keith.

Das liege zum großen Teil daran, dass viele junge Nutzer derzeit zum ersten Mal zu Amazons Geräten finden. Rund 60 Prozent der Kindle-Geräte im vergangenen Jahr seien an Erstkäufer gegangen.

Früher hätten jüngere Leute ihre Zeit mit dem Smartphone verbracht und nicht mit dem Lesen. „Die ablenkungsfreie Umgebung eines Kindle ist das, wohin die Leute zurückgekehrt sind“, ist Keith überzeugt. „Sie sind von den Smartphones überfordert worden“.

Amazons Geräte-Fiasko

Die neuen Kindle-Versionen sind die ganze Hoffnung der Gerätesparte des Online-Giganten. Schließlich haben sich andere Produkte wohl bisher nicht bezahlt gemacht, allen voran die Spracherkennung „Alexa“ und die dazugehörigen Lautsprecher „Echo“.

Sie sollen zuletzt ein finanzielles Fiasko für den Konzern gewesen sein, wie jüngst das „Wall Street Journal“ unter Verweis auf interne Dokumente berichtete. Allein in den fünf Jahren zwischen 2017 und 2021 habe die Gerätesparte um Alexa dem Konzern mehr als 25 Milliarden Dollar Miese eingespielt, heißt es darin.

Die Strategie des Unternehmens war es bislang, die Preise für Echo-Lautsprecher und andere intelligente Geräte niedrig anzusetzen. Gleichzeitig hat der Konzern massiv in die Entwicklung seines Sprachassistenten investiert.

Einnahmen sollten Kunden dann bei der Nutzung generieren, etwa durch Online-Bestellungen per Sprachbefehl. Doch diese Art des Einkaufens hat sich bislang nicht durchgesetzt.

Amazon selbst hatte in der Vergangenheit immer wieder darauf verwiesen, dass die Geräteabteilung zahlreiche profitable Geschäftsfelder aufgebaut habe und gut aufgestellt sei, um dies auch weiterhin zu tun. Kunden auf der ganzen Welt verwendeten Hunderte Millionen Amazon-Geräte, was ein großer Erfolg sei, hieß es.

Doch es gibt auch für Alexa neue Hoffnung, nicht zuletzt wegen des aktuellen Trends um künstliche Intelligenz und virtuelle Assistenten. Spekuliert wird etwa über eine kostenpflichtige Version von Alexa, für die der Konzern einen monatlichen Abo-Preis verlangen könnte. Zahlende Nutzer würden im Gegenzug neue KI-Funktionen erhalten. Das klassische Alexa soll kostenlos bleiben, wie US-Medien berichten.

Im „The Shed“ in New York zückten Besucher ihre Smartphones lediglich, um Fotos von den neuen Modellen zu machen. „Ein Großteil der Millennials und der Gen Z spricht wieder über Bücher, vor allem in sozialen Netzwerken“, sagte Amazon-Manager Keith und kann sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. „Hier hat uns TikTok also eher genutzt.“

Laurin Meyer ist Wirtschaftskorrespondent der WELT in New York. Er berichtet vor allem über die amerikanische Wirtschaftspolitik, deutsche Unternehmen in den Vereinigten Staaten und Big Tech. Er ist außerdem Co-Host des WELT-Podcasts „Alles auf Aktien“.

Source: welt.de