Altersvorsorge: Wie denken die älteste und die jüngste Gemeinde Deutschlands extra die Rente?
Welschenbach ist ein altes Dorf. Ein schmaler Bach läuft durch die Gärten, vor einigen Häusern stehen alte Traktoren, zwischen den Höfen sind Wiesen und Weiden. Auf dem kleinen Spielplatz am Dorfeingang ist die Farbe an den Metallstangen stumpf geworden, auf Schaukel und Wippe liegt Moos. Welschenbach ist ein Dorf der Rentner. 48 Menschen leben hier, im Schnitt sind sie 63 Jahre alt. Laut Statistischem Bundesamt ist Welschenbach die älteste Gemeinde Deutschlands. Außer einer Bushaltestelle und dem Gemeindehaus gibt es hier nichts – keinen Laden, keinen Bäcker, keine Bank.
In Lautzenhausen, oder wie die Leute hier sagen: Lautzen, sieht es anders aus. Es gibt eine neue Halle der freiwilligen Feuerwehr, ein Taxiunternehmen, Hotels, Restaurants und eine Bar. Neben dem Gemeindehaus liegt ein großer Spielplatz mit Klettergerüst, Seilbahn und mehreren Rutschen. Auf einem Schotterplatz stehen Pylonen, dazwischen Klarsichthüllen mit Namen: reservierte Stellplätze für die Autos von Leuten, die vom nahe gelegenen Flughafen Hahn aus in den Urlaub fliegen. Der Flughafen prägt Lautzenhausen ebenso wie eine Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber – und seine sehr jungen Bewohner. Rund 400 Menschen leben hier, knapp 34 Jahre alt sind sie im Durchschnitt. Das macht Lautzenhausen zur jüngsten Gemeinde Deutschlands.
Zwischen den beiden Dörfern in Rheinland-Pfalz liegen nur rund fünfzig Kilometer Luftlinie. Die beiden Orte, jeweils auf ihre Weise eine statistische Besonderheit, verraten viel darüber, wie in Deutschland über die Rente gesprochen wird, also über jenes Thema, das seit Wochen die politische Debatte dominiert. In Berlin wird über Haltelinie, Steuerzuschüsse und Eintrittsalter gestritten – und immer wieder über die Lastenverteilung zwischen „Alt“ und „Jung“. In Welschenbach und Lautzenhausen geht es dagegen um harte oder lange Arbeit, um steigende Preise und Mieten, es geht darum, ob das Geld am Monatsende reicht. Wer einen Tag dort verbringt, stellt fest: Mit der Vorstellung vom großen Generationenkonflikt haben der Alltag und die Einstellung der Menschen wenig zu tun.

In Welschenbach geht Frank mit seinen zwei Hunden über die leere Straße. Er ist 64 Jahre alt, seinen Nachnamen will er lieber nicht in der Zeitung lesen. E war 45 Jahre Dachdecker. Seit Oktober arbeitet er nicht mehr, jetzt bekommt er monatlich 1342 Euro aus der Rentenkasse. „Wäre ich ledig oder würde noch in Düsseldorf wohnen, wäre es unmöglich, damit auszukommen“, sagt er. „Hier geht’s, so gerade.“ Vor einigen Jahren ist er in die Eifel gezogen, hat einen Hof gekauft, seine drei Kinder sind Ende dreißig bis Mitte vierzig.
Was ein junger Handwerker über den Renteneintritt sagt
Wenn er von der Rente erzählt, kommt er schnell auf das Gefühl, dass es nicht gerecht zugeht. Frank wählt AfD. „Ausländer kriegen Geld, und alte Menschen, die schuften, wo es nicht reicht“, sagt er. Dazu berichtet er von Leuten aus den Nachbardörfern. Über Politiker sagt er, sie hätten „keine Ahnung, wie es ist, richtig zu arbeiten“, bekämen „so viel Abfindung, Geld, Rente“ und hätten „nicht einen Tag geackert“. Er fühle sich übergangen. „Auch wenn es mir nicht schlecht geht“, wie er selbst ergänzt.
Als Dachdecker ist Frank das wohl beliebteste Beispiel derer, die gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters argumentieren. Die Frage, wie lange man arbeiten soll, beantwortet er ohne Zögern. „Mit 70 kannste doch niemanden mehr aufs Dach schicken“, sagt er. Für ihn ist das eine körperliche Grenze. Dass darüber diskutiert wird, das Rentenalter perspektivisch weiter anzuheben, bekommt er mit. Für seinen Beruf hält er das für realitätsfern.

Unterstützung erhält er ausgerechnet aus Lautzenhausen, dem Dorf der jungen Leute. Leon Priester, 18, macht eine Ausbildung zum Metallbauer. Er ist vor ein paar Wochen hierher gezogen. 67 als Rentenalter findet er „nicht verkehrt“, höher sollte es nicht werden – vor allem nicht im Handwerk, das mit Corona, Kurzarbeit und schwankenden Aufträgen genug erlebt habe. Frau Weber, Arzthelferin um die fünfzig, sieht es ähnlich. „Bei mir wird’s gehen“, sagt sie zu ihrer eigenen Rente. „Es kommt halt drauf an, was man macht. Dachdecker geht halt einfach nicht so lange wie Büro.“ Sie findet, dass Berufe stärker eine Rolle spielen sollten als das Geburtsjahr. Wer früh verschlissen ist, soll früher raus können; andere sollen länger arbeiten dürfen.
Was Weber vorschlägt, wird in der politischen Debatte „flexibler Renteneintritt“ genannt: Wer kann und will, soll länger arbeiten dürfen, andere früher aussteigen – ohne dass sie gleich große Einbußen haben. In diese Richtung zielt die geplante Aktivrente der Bundesregierung. Sie soll Rentnern, die die Regelaltersgrenze erreicht haben, einen steuerfreien Zuverdienst von bis zu 2000 Euro ermöglichen. Umfragen zeigen, dass sich viele Ältere das grundsätzlich vorstellen können – wenn die Bedingungen stimmen, der Job passt und die Gesundheit mitmacht.
Auch Dachdecker Frank in Welschenbach sagt: „Am liebsten würde ich arbeiten.“ Er mache „alles, was so ums Haus herum anfällt“ und könnte sich vorstellen, bei jemandem „die Fassade zu streichen“. Er schaut, was geht. Daran ändert die Aktivrente nichts. Er würde das sowieso machen, sagt er. Genau habe er sich damit aber nicht beschäftigt.
Einige kommen kaum über die Runden
Mit seinen 1342 Euro kommt Frank hin, weil Welschenbach einiges auffängt, was anderswo Geld kostet. „Hier kennt man sich“, sagt er. Ein Nachbar mit einer Werkstatt kümmert sich um sein Auto, und ohne Auto geht es hier nicht. Die Einkäufe erledigen viele ältere Welschenbacher bei „Heiko“, einem weißen Laster aus der Eifel, der mittwochs durch die Dörfer fährt und den Bewohnern Lebensmittel, fertige Mahlzeiten und Milch bringt. Nur Zigaretten und Alkohol hat Heiko wegen einer Auflage aus dem Sortiment genommen, erzählt Frank. Das Angebot ersetzt für viele im Ort den Weg zum nächsten Supermarkt. Das spart Zeit, Kraft und Fahrtkosten.
In Lautzenhausen gibt es so einen Wagen nicht, sagen die Leute dort. Die überwiegend jungen Bewohner fahren zum nahen Supermarkt.
Doch auch in Lautzenhausen gibt es ältere Menschen. Sie sind auf Auto, Bus oder Hilfe angewiesen. Einige von ihnen kommen kaum über die Runden. Eine Neunundsiebzigjährige hat als Reinigungskraft gearbeitet, erst vor zwei Jahren hat sie damit aufgehört – seit einem Sturz hat sie eine künstliche Hüfte. Über ihre Rente sagt sie, sie brauche „auf jeden Fall mehr Geld“. Es sei „zu wenig zum Leben, zum Sterben zu viel“. Nachrichten schaue sie kaum. „Das betrifft mich nicht“, sagt sie über die Rentenpolitik.
Diese Mischung aus Vertrauen, Pragmatismus und Schulterzucken gibt einen Hinweis darauf, warum tiefgreifende Reformen so schwer durchzusetzen sind. Wer glaubt, dass es für ihn persönlich schon irgendwie reichen wird oder dass sich ohnehin nichts mehr ändern lässt, drängt selten laut auf Veränderungen. Schon gar nicht solche, die kurzfristig wehtun könnten.
Welche Verantwortung trägt der Einzelne?
Auch Arzthelferin Weber aus Lautzenhausen meint: Es wird schon irgendwie gehen. Dabei sieht sie in ihrer Praxis ständig, was es bedeutet, wenn die Rente nicht reicht. Sie erzählt von Patientinnen und Patienten, die Rezepte nicht einlösen, weil ihnen das Geld für die Zuzahlung fehlt, die je nach Medikament bis zu zehn Euro beträgt. Sie berichtet von einer älteren Frau, die sich über einen Kaffee im Wartezimmer besonders gefreut hat, weil sie sich den lange nicht gegönnt hatte. Dass bestimmte Gruppen wie Beamte oder freiberufliche Ärzte nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, empfindet Weber als ungerecht. „Alle sollten in eine Kasse einzahlen“, sagt sie. „Wir sind eines der größten Industrieländer, es kann ja nicht sein, dass wir das mit der Rente nicht hinkriegen.“
Welche Verantwortung trägt der Staat, welche der Einzelne? In dieser Frage gehen die Meinungen auseinander.
Hans-Peter Kluth aus Welschenbach ist mit 55 in Rente gegangen. Hört man ihm zu, wirkt er überzeugt: mit gutem Grund. Jahrzehntelang hat er bei Ford gearbeitet, war im Betriebsrat. „Meist nur vier Stunden Schlaf und dann wieder los“, so fasst es der heute Siebenundsechzigjährige zusammen. Er betont, er habe früh gespart und „nicht viel Geld für Spaß ausgegeben“. Große Urlaube, teure Reisen – das habe es bei ihm kaum gegeben. Seinen Kindern sagt er heute noch, man müsse „nicht jedes Jahr nach Malle“ fliegen, sondern Geld für später zurücklegen.

Seine Nachbarin, die mit über 70 wieder arbeiten muss, beschäftigt ihn. Das tue ihm leid, sagt er, der Staat solle solche Fälle auffangen. Gleichzeitig meint er, sie habe früher „viel gelebt“ und sich in der Hippiezeit wenig Gedanken um später gemacht. „Das fällt ihr jetzt auf die Füße“, sagt er. Für ihn gehört zur Rente immer auch die Frage: Wie ist man vorher mit Geld umgegangen?
Doch gerade jungen Leuten fehlt es oft an Möglichkeiten, überhaupt Geld zur Seite zu legen. Sie finanzieren die Renten der Älteren und haben selbst kaum Puffer.
Azubi Leon Priester aus Lautzenhausen verdient 750 Euro brutto und zahlt über 600 Euro Miete. „Viel bleibt da nicht“, sagt er. Rechnerisch bleibt nach Abzügen sogar weniger übrig, als die Miete kostet. Den Rest muss er irgendwie zusammenbekommen. Ohne die Ausbildungsförderung, auf die er momentan noch wartet, würde es gar nicht gehen, sagt Priester. Einen Groll gegen die Rentner hegt er trotzdem nicht, schließlich hat er selbst Großeltern. „Die haben es verdient, sich auszuruhen“, sagt er. Aber eine auskömmliche Rente wünscht er sich eben auch für seinen eigenen Lebensabend. Seit er 15 ist, hatte er Minijobs und bewusst Rentenbeiträge gezahlt. „Damit ich später was habe.“ Er weiß, dass er eigentlich zusätzlich sparen müsste. Doch im Moment geht das nicht.

Um die Zukunft der Rente sorgt sich auch Constance Schuch. Die Achtunddreißigjährige arbeitet als Erzieherin in der Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber am Flughafen. Sie versucht zu sparen, so gut es mit vier Kindern geht, und weiß gleichzeitig, „dass das System so nicht weiter funktionieren wird“. „Es braucht irgendeine Lösung“, sagt sie. Sie sorge sich vor allem um ihre Kinder, weniger um sich selbst. Länger zu arbeiten, um ihre Generation zu entlasten, könnte sie sich grundsätzlich vorstellen. Aber das müsse fair geregelt sein. „Es gibt Leute, die können länger, und Leute, die können das nicht.“
Auf der einen Seite stehen also Rentnerinnen, deren Geld bis zum Monatsende kaum reicht. Auf der anderen ein Auszubildender, dem nach der Miete fast nichts übrig bleibt und der trotzdem in die Kasse einzahlt. Und eine Mutter, die um die Altersvorsorge ihrer Kinder bangt. So schwierig die Lage mancher junger und alter Menschen in den beiden Dörfern ist – von einem offenen Streit zwischen den Generationen ist kaum etwas zu hören.
Welche Reformen bei der Rente noch nötig wären, wissen die befragten Menschen in Lautzenhausen und Welschenbach nicht zu sagen. Sie scheinen sich innerlich aus der Debatte zurückgezogen zu haben. Leon Priester sagt, die Rente sei in seinem Freundeskreis kein Thema. Die ältere Reinigungskraft aus Lautzenhausen sagt: „Das betrifft mich nicht“, obwohl eine Reform auch ihre Rente steigern oder schmälern könnte. Constance Schuch sagt, sie habe oft das Gefühl, ohnehin nichts ändern zu können, vertraue aber darauf, dass „irgendeine Lösung“ kommt.
Am Ende bleibt der Eindruck von zwei Orten, in denen die große Rentenfrage bisher bloß still mitläuft. Die Dramatik, mit der Politiker über die Rente sprechen, wirkt hier fern. Allenthalben heißt es: Für echte Reformen braucht es Druck auf die Politik. Aus Lautzenhausen und Welschenbach wird er nicht kommen.