Alltagsbeobachtungen: Sommer der Demokratie
Das gute alte Freibad, meint Doris Dörrie, sei ein „Trainingslager für Demokratie“. Weil man sich dort Dinge zumutet, die einem im Zustand trockener und vollständiger Bekleidung niemals einfielen. Kampfkrauler zum Beispiel, die einem ihre Extremitäten in die Rippen rammen, oder frech ins Becken strullende Kinder. All das hat Dörrie intensiv studiert, um schließlich einen Film darüber zu drehen (Freibad) (siehe auch S. 52, Glauben & Zweifeln). Der läuft seit 1. September im Kino und kann früheren Dörrie-Erfolgen (Männer) schon deshalb nicht das Wasser reichen, weil er in einem Frauen-Schwimmbad spielt. Dieser Kalauer, Pardon, musste sein.
Frau Holz und Fräulein Schlüter, die beiden widersprüchlichen Seelen in meiner Brust, drehen zwar keine Filme, aber sie sind leidenschaftliche Verfechterinnen der Demokratie. Gerade jetzt, wo die Energiekosten unser Gemeinwohl gefährden. In Berlin werden die Freibäder bis Ende September „ausschließlich mit der Kraft der Sonnenstrahlung“ geheizt, was – danke, lieber Senat! – unendlich viel grüner und poetischer klingt, als es ist, sich bei nieseligen 14 Grad hauptstädtischer Außentemperatur in einen Neoprenanzug zu zwängen. Die Neos sind neuerdings erlaubt, und wer nicht genau hinsieht, könnte sie glatt mit den Burkinis muslimischer Frauen verwechseln (zumal bei vielen Neos die Thermo-Badekappe mit Klettverschluss inklusive ist). Womit wir wieder bei Doris Dörrie wären. In Freibad nämlich bringt eine Gruppe vollverschleierter Araberinnen die komplizierte identitätspolitische Statik des Frauenpools durcheinander, und am Ende ist der neue Bademeister ein Mann. Lektion gelernt?
Um ihre Staatsbürgerinnenpflicht zu erfüllen und Energie zu sparen (Gas, Öl, Strom, Wasser und Chlor), haben Frau Holz und Fräulein Schlüter die diesjährige Freibadsaison vorzeitig abgebrochen und sind in die Berge gefahren. Denn was den Städten ihre Freibäder sind, apropos „Trainingslager für Demokratie“, das sind den Alpen ihre Klettersteige. Da diese auf Italienisch so hübsch vie ferrate heißen, Eisenwege, fahren die Schwestern besonders gern in die Dolomiten. Ein eisenhaltiger Klassiker jagt den nächsten, energetisch braucht’s zur Besteigung wenig mehr als die eigene Muskelkraft, und was haben die Wege für klangvolle Namen! Attilio Tissi! Dino Buzzati! Cesare Piazzetta! Giuseppe Olivieri! „Eine Verdi-Oper ist nichts dagegen“, seufzte Fräulein Schlüter und blätterte in einem Führer mit den „schönsten 111 Kletterrouten für Einsteiger und Könner“. Frau Holz knurrte: „Fällt dir vielleicht auf, dass die einzige via ferrata mit einem Frauennamen in deinem tollen Buch nicht vertreten ist?“ Fräulein Schlüter klappte den Führer zu und summte die Melodie von La donna è mobile, sie konnte sehr schnippisch sein: „Du meinst den Sentiero Oliva Detassis, die überhängende Leitern-Serie in der Brenta? Nun, den haben die Brüder Bruno, Giordano und Catullo Detassis vor hundert Jahren ihrer mamma gewidmet, und Mütter spielen in der italienischen Oper nun wirklich keine große Rolle.“ Frau Holz schüttelte den Kopf, manchmal verstand sie ihre kleine Schwester einfach nicht.
Zurück zur Demokratie. Klettersteig ist, wenn ein fest verankertes Stahlseil zusammen mit mancherlei in den Fels gehauenen Leitern, Brücken, Stiften oder Klammern dafür sorgen, dass nicht nur die Messners dieser Welt senkrechte Wände hinaufspazieren, sondern auch Normalsportliche. Das ist schon mal echt demokratisch. Noch demokratischer wird’s bei einem Stau im Steig. Denn dann diktieren die Langsamen das Tempo, die Zaghaften und Ungeübten, und Überholen gilt nicht. Wie hart Italien in diesem Sommer um den Erhalt der Demokratie bangt, das lässt sich an der exponentiell gestiegenen Beliebtheit seiner vie ferrate ablesen. Viele, sehr viele Italiener wollen vor der Wahl am 25. September offenbar noch einmal spüren, wie es gewesen sein wird, in einer offenen Gesellschaft zu leben. Hingebungsvoll stehen sie bei Attilio Tissi, Cesare Piazzetta und den anderen in der Schlange, Steinschlaghelm an Steinschlaghelm, so lange, bis alle Klettergurte vor ihnen entwirrt sind und alle Schlüsselstellenfotos geschossen und es etwas weitergeht.
Frau Holz wurde das irgendwann zu bunt. „Dieses Volk verliert keine Wahlen, sondern seine Seele“, schnaufte sie, machte sich aus der Sicherung los und schob sich free solo die Felswand hoch. Eine Dreiviertelstunde nach ihr erreichte auch Fräulein Schlüter den Gipfel. „Schau mal, wen ich kennengelernt habe!“, rief sie von Weitem, „Doris, Doris aus Hannover. Sie lädt uns heute Abend zum Knödelessen ein.“ Doris nahm ihren Helm ab und lächelte. Unter ihrem Sport-Hidschab klingelten leise die Karabiner.