Afghanistanreisen: Mit Tiktok-Touris zu den Taliban
Sie reiten auf Pferden durch abgelegene Flüsse, baden in den stahlblauen Seen von Bamiyan, radeln tausende Kilometer durch die Wüste und machen Selfies mit bewaffneten Taliban: Was früher exotisierende Karl-May-Fantasie war, ist heute das Klickkapital von Travelbloggern auf Tiktok. Zwischen der Faszination für local food und kritischen Bemerkungen zu Kinderarmut, Geschlechterapartheid und Kriegsschäden, stilisieren sie Afghanistan zum verlockend unerforschten Ort, an dem sich die Männer (und weniger die Frauen) des Westens noch beweisen können – in der das neoliberale Versprechen auf Freiheit eingelöst werden kann.
„Just make a move, fang einfach an!“, so drückt das „MoveLikeG“ aus. Der blonde Surferboy ist Anfang 20 und kommt aus Bayern. Von dort aus hat er sich auf eine Weltreise gemacht – ohne Geld, wie er immer wieder betont. Seine Videos auf YouTube, Instagram und Tiktok haben hunderttausende Klicks, ein paar Freunde aus Bayern führen ihn als Influencer in ihrem kürzlich gegründeten Social-Media-Marketing-Unternehmen. Seine Reiseberichte aus Afghanistan entsprechen dem Genre-Standard, den auch andere Travel-Tiktoker wie Gustav Rosted aus Dänemark oder Eli Synder aus einem Vorort von Kansas City prägen: Weiße Männer, authentisches Streetfood, kleinere Gefahren, unberührte Natur und kurioser Erstkontakt mit „gastfreundlichen Einheimischen“, wie es in vielen Videos heißt.
Männer bekommen mehr Klicks
Solche Videos werden millionenfach geklickt und durch ihre vielfältigen Hooks (traumhafte Landschaften, Essen, National-Stereotype und ausgefallene Orte) in die ForYouPages gespült. Entscheidend für ihren Erfolg scheint dabei auch die richtige Ansprache zu sein – und das richtige Geschlecht: Frauen, die vergleichbare Reisen durch Afghanistan machen, bekommen in der Regel nur einen Bruchteil an Klicks und Likes. Dabei nehmen sie weitaus größere Gefahren auf sich. Ihren Videos aber fehlt der Vorbildcharakter, die Karl-May-Fantasie, die beim Publikum Lust auf mehr macht und noch dazu die Rhetorik des Motivationstrainers, wie sie „MoveLikeG“ verwendet: „Nicht in GTA, im real life! Traumerfüllung vom Feinsten!“
Eine Ausnahme stellt die Amerikanerin Chloé Jade Meltzer dar, die mit einem ihrer Afghanistan-Tiktoks, in dem sie fünf Dinge tut, die von den Taliban verboten worden sind, viral ging. Immer wieder unternimmt sie in ihren Clips den Versuch, auf die verheerenden Repressionen gegen Frauen in Afghanistan aufmerksam zu machen. Ein Versuch, der zumeist aber zwischen den Postkartenansichten spektakulärer Landschaften und ihren fein geflüsterten Ausführungen über die Reichtümer der afghanischen Kultur untergeht. Auch in ihren Videos tauchen immer wieder Taliban auf – um nicht vom Tiktok-Algorithmus blockiert zu werden, zumeist als „t4lib4n“ geschrieben.
„Wie kann ich ein Land beurteilen, wenn ich selbst nie da war?“
Während die meisten männlichen Blogger zwar genervt sind von den ständigen Checkpoint-Kontrollen der Taliban, aber sonst beteuern, von ihnen immer gut behandelt worden zu sein, nimmt Chloé Jade Meltzer die unentwegte Anwesenheit der bewaffneten Islamisten als Bedrohung war. Sie antwortet kritischen Stimmen in den Kommentaren, die fragen, warum sie dennoch durch Afghanistan reise: „Wie kann ich ein Land beurteilen, wenn ich selbst nie da war?“ Die Erfahrung aus erster Hand kickt: Ein weiterer Bayer, der Fahrradreisende Daniel Großhans, einer der erfolgreichsten Afghanistan-Tiktoker, beschreibt seine Motivation, mit dem Fahrrad nach Afghanistan zu fahren, in Sätzen wie „Ich lebe den Moment“ oder verbindet sie mit Idealen wie „Freiheit“ und „Entdeckungs-Faktor“.
Immer wieder betont er, dass man nach 40 Jahren Krieg, endlich wieder in Afghanistan reisen darf. Damit erinnert er an den „Hippie Trail“, eine Route, die in den 1960ern und 70ern auch deutsche Hippies nahmen, um mit VW-Bulli und billigem Opium in der Leere weiter afghanischer Wüsten ihre Erfüllung zu finden. Schon damals war das eine Flucht vor dem Eigenen, dem Zwang westlicher Zivilisation und den politischen Krisen der Zeit. Von denen will auch Großhans in seiner Reise nicht gestört werden. Er nimmt sie zwar wahr, erwähnt sie in Videos, aber Land und Leute will er unabhängig von den Taliban erleben, formuliert sogar einen moralischen Auftrag: „Ich bin es den Afghanen schuldig“.
Sie erzählen von Frauen, aber zeigen sie nicht
Ob das gefährlich oder nicht sogar gefährlich naiv ist, das werden er und andere Afghanistan-Tiktoker oft gefragt. In Videos antworten sie darauf, zeigen sich besorgt. Großhans wird auch mit dem Vorwurf konfrontiert, er als Mann könne problemlos reisen, für Frauen wäre eine solche Reise ausgeschlossen. Um das Gegenteil zu beweisen, lädt er in einem Video die deutsche Bloggerin Valerie dazu ein, von ihrer Afghanistanreise zu erzählen. Valerie, wie viele, betont, sie verstehe, dass sie als Ausländerin in Afghanistan Privilegien genieße. Doch auch sie lässt auf ihre richtige Beobachtung die falsche Konsequenz folgen. Gerade mit Blick auf eingesperrte und zwangsverschleierte Frauen in Afghanistan, wirkt es befremdlich, wie die deutsche Bloggerin andere Frauen dazu aufruft, nach Afghanistan zu reisen: „Fucking do it! Also ich lass mir nicht von irgendwelchen Männern vorschreiben, was ich sehen darf und was nicht.“
Wie jeder andere Tiktoker in Afghanistan, muss sich aber auch Valerie von den Taliban vorschreiben lassen, was sie sehen darf und was nicht. Was sie in keinem Fall sehen und auch nicht filmen darf, das sind die afghanischen Frauen. Die werden schlimmer denn je in ihre islamisch-patriarchalen Familien zurückgedrängt, dürfen nicht zur Schule und werden unter Androhung von Steinigung und Ehrenmord in Kinderehen, in die Hausarbeit und in die Verschleierung gezwungen.
Taliban wollen Touristen
So ist es nicht ohne Grund, dass die Taliban, drei Jahre nach ihrer Machtübernahme, in einer Situation, in der die deutsche Politik leidenschaftlich über Abschiebungen nach Afghanistan debattiert, Tiktoker durchs Land reisen lässt. Einige der Blogger haben das selbst erkannt, zum Beispiel Jannis, 22, aus Deutschland: „Vor drei Jahren hätten sie mich hier noch umgebracht, jetzt ist alles ziemlich easy für Touristen“. Chloé Jade Meltzer und Daniel Großhans haben verstanden, warum. In ihren Clips erklären sie: die Taliban brauchen Außenwirkung, sie wollen international anerkannt und normalisiert werden.
Tiktok-Touris sind mit ihrem Drang, Entdeckungsreisen und selektive Freiheit in humanitären Krisengebieten für ein paar Klicks zu promoten, die gefundenen Agenten für diese Mission. Auch noch dann, wenn sie sich selbst als kritisch positionieren. Auf Tiktok gilt schließlich: Landschaften, die auf meiner Netzhaut zerfließen, bewirken mehr als Verbrechen, die ich nicht sehe. Verwundern muss es nicht, dass weitere von den Bloggern bereiste Gefahrengebiete wie der Iran, Pakistan, Libyen oder Somalia, besonders gut klicken: Verführerisch wird die Entdeckung, wenn sie verboten ist, abenteuerlich, wenn es Gefahren gibt. Der Tiktok-Travelblog wird derweil zur neoliberalen Heldenreise: autoritäre Herrscher sind auch nur Challenges, die man privilegienbewusst und selbstkritisch überkommt. Die Taliban danken dafür mit Reisevisa, Selfies und der Einladung zum Tee.