AES-Allianz: Thomas Sankaras Urenkel wollen ein Afrika ohne westlichen Einfluss

Wer am Nachmittag mit der Moskauer U-Bahn aus dem Stadtzentrum Richtung Südwesten fährt, dem bietet sich manchmal ein ungewohntes Bild. Dann steigen schweigsame afrikanische Offiziere in Uniform in den Waggon, die Hoheitsabzeichen der westafrikanischen Republik Mali tragen. Sie fahren zu Begegnungen mit russischen Kollegen. Denn Malis 41-jähriger Oberkommandierender und Staatschef, Assimi Goïta, der ab August 2020 in zwei aufeinander folgenden Staatsstreichen die Macht übernahm, setzt auf einen Schulterschluss mit Moskau. Im Juli 2023 traf sich Goïta mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin bei einem Afrika-Gipfel in Sankt Petersburg. Danach telefonierte er mehrmals mit ihm. In Malis Hinwendung zum Kreml zeigt sich das Scheitern westlicher Bemühungen, junge afrikanische Eliten für sich zu gewinnen. Dabei hat Goïta eine militärische Ausbildung in den USA, Frankreich und in Deutschland erfahren.

Bei der Begegnung mit Putin nannte Goïta den russischen Präsidenten einen „großen Freund Malis“ und lobte die „militärische Partnerschaft“ der beiden Staaten. Das Volk von Mali schätze die Hilfe Russlands gegen den „beispiellosen Druck vonseiten einiger Länder“, die auf „neokoloniale Praxis“ setzten – gemeint war vor allem Frankreich. Putin wiederum bezeichnete Mali beim Treffen mit Goïta als „einen der Schlüsselpartner in der Region“: Er kündigte Kooperationen an in der Landwirtschaft, im Bergbau und der Energiebranche. Schon heute fördert der russische Staatskonzern Rosatom Lithium in der Region von Sikasso im Süden des Landes. Zudem versprach Putin, Russland werde die Zahl der Stipendien für Studenten aus Mali verachtfachen, auf 290 Studienplätze. Doch nicht nur Mali, auch Burkina Faso pflegt enge Beziehungen zu Russland.

Dort putschte sich der Militäroffizier Ibrahim Traoré im September 2022 an die Macht. In der Hauptstadt Ouagadougou hat Russland im Dezember wieder eine Botschaft eröffnet, erstmals nach dem Ende der Sowjetunion.

Russlands Führung will offenkundig das NATO-Land Frankreich aus Afrika verdrängen. Die Chancen dafür wachsen, seit Mali, Burkina Faso und Niger im August vergangenen Jahres eine „Allianz der Staaten des Sahel“ (AES) geschaffen haben. Der Staatenbund versteht sich als geostrategischer Partner Moskaus. Alle drei Länder traten im Januar aus der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS aus. Der neue Machtblock AES, der knapp 70 Millionen Menschen umfasst, wirkt wie ein Magnet auf die Region. Die politische Führung Senegals sucht die Nähe dieses Dreibundes und auch die Küstenrepublik Benin intensiviert ihre Beziehungen zu den Nachbarn ebenso wie zu Russland.

Vor allem Goïta und Traoré haben Kultstatus bei Studenten und jungen Offizieren in den Nachbarländern. Gezählt sind die Tage der in Paris als folgsam geschätzten Präsidenten der Elfenbeinküste, Alassane Quattara (82), und Kameruns, Paul Biya (91). Mit dem Putsch in Niger im Juli 2023 hat in Afrika eine Zeitenwende begonnen, die im Weltbild westeuropäischer Politiker nicht vorgesehen war. Das verarmte und von Korruption angeschlagene Regime des Präsidenten Mohamed Bazoum in Niger galt in Paris und Berlin als „Stabilitätsanker“ für eine militärische Zusammenarbeit. Doch Ende Juli 2023 zerbrach dieser Anker innerhalb weniger Stunden. Militärs, geführt vom Chef der Präsidentengarde, übernahmen die Macht.

Moskaus Rat zu Repression

Frankreich versuchte in den Wochen danach mit massivem Druck auf Staaten der ECOWAS-Gruppe, die neue Führung von Niger durch die Drohung mit einer militärischen Intervention zum Rückzug zu bewegen. Die französische Führung hoffte nach den Worten ihrer damaligen Außenministerin, es könne den Putsch in Niger wieder rückgängig machen. Doch das erwies sich als Fehlkalkulation, mit fatalen Folgen für Frankreich. Die Drohkulisse eines Gegenputsches brach innerhalb weniger Wochen zusammen. Dann geschah etwas Unerwartetes.

Selbst in den Eliten jener westafrikanischen Staaten, in deren Präsidentenbüros Anrufe aus dem Pariser Élysée-Palast viele Jahre für Furcht gesorgt hatten, verflog die Angst vor Frankreich. Die Diplomatie Togos, eines Landes, dessen politische Elite lange loyal gegenüber Frankreich war, wagte ungewohnte Schritte. Togos Außenminister Robert Dussey führte Gespräche mit den Außenministern von Nachbarländern und engagierte sich für Verhandlungen mit der neuen Macht in Niger. Und er empfahl Frankreich in einem Interview mit der Zeitschrift Jeune Afrique süffisant, seine diplomatische Erfahrung in solche Gespräche einzubringen (der Freitag 49/2023). So brachte er alle Interventionspläne zu Fall.

Als Frankreichs Problem in Afrika erweist sich nicht nur die Sprunghaftigkeit seines Präsidenten Emmanuel Macron, der jede Debatte über seine Fehler vermeidet. Frankreich zeigt sich gegenüber dem frankofonen Afrika als strukturell schwach. Bei dem Versuch, afrikanische Staaten von Paris fernzusteuern, stützt sich Paris vor allem auf seinen Auslandsgeheimdienst DGSE. Dessen Mitarbeiter warben zahlreiche afrikanische Politiker und Beamte als Agenten an und versuchten die Sicherheitsministerien der einstigen Kolonien durch Berater zu kontrollieren.

Die DGSE galt in Ländern des französischsprachigen Afrikas viele Jahre als allmächtig. Doch auch Frankreichs klandestiner Dienst hat nach dem Putsch in Niger bei afrikanischen Partnern viel von seiner Aura eingebüßt. Den zentralen Schwachpunkt der DGSE benennt deren langjähriger Offizier Jean-Pierre Augé in seinen Memoiren Afrique adieu. Die DGSE, die Frankreichs Präsidenten mit geheimen Dossiers über Afrika versorgt, ist dominiert von Militärveteranen. Militärs hätten sich oft als unsensibel, überheblich und analytisch schwach erwiesen, so das Fazit des DGSE-Offiziers. Die Putsche der von ihnen betreuten afrikanischen Militärs jedenfalls sahen sie nicht voraus. Mehr noch, Mitarbeiter von DGSE-Residenturen waren, wie Augé am Beispiel der Elfenbeinküste beschreibt, empfänglich für „Geschenke“ korrupter Regime. DGSE-Offiziere räkelten sich an Pools neben Villen, die ihnen örtliche Machthaber kostenlos anboten. Entsprechend waren DGSE-Berichte nach Paris „hauptsächlich ein Echo des Denkens und der Tätigkeit ihres afrikanischen Gastgebers“, so der DGSE-Veteran. Ironie der Geschichte, dass die Gegenreaktion auf das Übergewicht von Militärs in der französischen Afrika-Politik in der Macht von afrikanischen Militärs besteht.

Doch anders als die schillernden Figuren bei früheren Putschen haben die drei Militärregenten Goïta, Traoré und der Staatschef von Niger, Abdourahamane Tiani, eine langfristige politische Agenda. Mit Millionen junger Anhänger verbindet sie ein linker Panafrikanismus in der Tradition des revolutionären Staatschefs von Burkina Faso, Thomas Sankara. Der charismatische Politiker, der Freundschaft mit Fidel Castro pflegte, wurde 1987 mutmaßlich mit Beihilfe des französischen Geheimdienstes von einem Rivalen ermordet. Goïta bekennt sich zur Tradition Sankaras und Burkina Fasos Staatschef Traoré inszeniert sich auch visuell mit seinem roten Barett als Reinkarnation von Sankara.

Um dessen Schicksal zu entgehen, setzen die neuen starken Männer von Mali, Burkina Faso und Niger auf Mechanismen autoritärer Machtsicherung. Misstrauisch beäugen sie und ihre von Moskauer Geheimdienstoffizieren beratenen Sicherheitsdienste Nichtregierungsorganisationen. Von Frankreich und anderen EU-Ländern unterstützte Organisationen (bis hin zu Ärzte ohne Grenzen) sind verboten. In Mali wurde kürzlich ein Berater des Ministerpräsidenten vom Sicherheitsdienst verhört. Er hatte zuvor einen kritischen Artikel über die Arbeit der Regierung publiziert. In Niger warnte der Gouverneur der Hauptstadtregion öffentlich vor „Sabotage“– ein Hinweis auf Widersacher.

Um Gegenputsche profranzösischer Kräfte zu unterbinden, können die Machthaber in Mali, Burkina Faso und Niger zudem auf ein Instrument zurückgreifen, das ihnen russische Berater aus langjähriger Erfahrung empfehlen: Der Sicherheitsdienst schafft innerhalb der Armee eine geheime Struktur zur permanenten Putsch-Prophylaxe. Die neuen Staatschefs versuchen ihre Macht zu festigen, indem sie (wie in Mali) durch ein Referendum eine neue Verfassung durchsetzen oder (wie Traoré in Burkina Faso) per Dekret ihre Amtszeit um fünf Jahre verlängern. Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung in Mali im Jahre 2023 zeigte, dass Staatschef Goïta die Unterstützung der Mehrheit der jungen Bevölkerung besitzt. Deren Durchschnittsalter liegt bei 15 Jahren.