Ärzt*in reichlich deutsches Gesundheitssystem: „Der klassische Patient ist männlich“
Sabina Schwachenwalde teilt im Buch Ungleich behandelt. Warum unser Gesundheitssystem die meisten Menschen diskriminiert (Goldmann 2024, 320 S., 18 Euro)gegen Kolleg*innen und das Gesundheitssystem aus, in dem sie arbeiten: Die meisten Menschen würden darin diskriminiert.
der Freitag: Sabina Schwachenwalde, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die meisten Menschen im Gesundheitssystem diskriminiert würden. Wer wird denn nicht diskriminiert?
Sabina Schwachenwalde: Im Grunde kann es jede*n treffen, im medizinischen Bereich Dinge zu erleben, die nicht gut sind. Aber bestimmte Privilegien machen es unwahrscheinlicher, dass jemand Diskriminierung erlebt. Wenn man ein Mann ist oder männlich gelesen wird und gleichzeitig weiß gelesen wird, wird man weniger diskriminiert. Auch Menschen mit Behinderung oder mit weniger Geld erleben eher Diskriminierung.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Frauenanteil im Medizinstudium befasse sich allein mit dem Anteil weiblicher Professorinnen oder Studierender und betrachte nicht die medizinischen Inhalte bezüglich Gender. Was genau kritisieren Sie an den Lehrinhalten im Studium?
Es ist auch wichtig, wer im Hörsaal vorne steht und das Wissen vermittelt. Aber das ist nur ein Teil des Problems. Selbst wenn die Mitarbeitenden im Gesundheitssystem – wenn auch langsam – diverser werden, sind die Inhalte, die sie erlernen, immer noch ein Problem. Ich sehe da einen großen Überarbeitungsbedarf, denn in der Medizin wird noch immer von einem „Standardmenschen“ ausgegangen, der behandelt wird. Das sehe ich schon, wenn ich ein Anatomiebuch aufschlage. Der klassische Patient ist da ein weißer junger Mann, an dem die anatomischen Strukturen und die Krankheitsbilder erklärt werden. Aber in dieses Schema passt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Die Folge ist, dass Menschen falsch behandelt werden.
Sie weisen darauf hin, dass Dinge im Studium nur lückenhaft vermittelt werden. Andere wichtige Inhalte würden gar nicht gelehrt, wie zum Beispiel, Abtreibungen vorzunehmen. Wie haben Sie gelernt, Abtreibungen vorzunehmen?
Im Studium habe ich das nicht gelernt, denn es war nicht Teil des Lehrplans. Ich habe dann in meiner Freizeit einen Workshop der Medical Students for Choice besucht. Es gibt mittlerweile auch die Doctors for Choice. Diese Organisationen haben es sich zur Aufgabe gemacht, dieses wichtige Wissen zu vermitteln, solange es die Universitäten noch nicht hinbekommen, das zu tun. In der Facharztausbildung hängt es dann vom Träger des Krankenhauses ab, ob ich lerne, Abbrüche vorzunehmen. Der Träger des Krankenhauses entscheidet, ob er Schwangerschaftsabbrüche vornimmt – oder nicht, wie es häufig bei christlichen Trägern der Fall ist. Es ist ein großes Problem, dass immer weniger Praxen und Kliniken Abbrüche durchführen. So kann es der Nachwuchs auch nicht lernen.
Eine Studie aus den USA von 2021 zeigt: Die Forschungsmittel für Krankheiten, die vor allem Frauen betreffen, sind unterrepräsentiert. Typische Männerkrankheiten-Forschung bekommt hingegen viel Geld. Es gibt sogar mehr Forschung zu Erektionsstörungen, von denen 19 Prozent aller Männer betroffen sind, als zum prämenstruellen Syndrom, von dem 90 Prozent der Menstruierenden betroffen sind. Frauen machen doch die Hälfte der Patient*innen aus. Wie kann das sein?
Im Endeffekt geht es auch hier um Macht. Wer sitzt an den Machtpositionen, wer entscheidet, wohin das Geld geht? An diesen Positionen sitzen vor allem weiße Männer. Das ist im Bereich der Forschung total deprimierend. Ein Großteil der Forschung, die durchgeführt wird, zielt überhaupt nicht darauf ab, Erkrankungen zu bekämpfen, von denen besonders viele Menschen betroffen sind. Es gibt zum Beispiel viel mehr Forschung zu Haarausfall als zu Malaria. Von Haarausfall sind vor allem ältere cis Männer betroffen, die Menschen, die viel Macht und Geld haben. Sie sind die potenziellen Käufer der neuen Medikamente, deshalb ist das Interesse so groß, hier neue Medikamente zu entwickeln. Wohingegen Malaria als Armutserkrankung eben aus wirtschaftlicher Sicht nicht interessant ist.
Anhand praktischer Beispiele aus Ihrem Berufsalltag zeigen Sie, dass die Medizin immer weiße Menschen im Fokus hat. Beim Messen des Sauerstoffgehalts im Blut etwa oder bei der Diagnose von Hautkrebs. Medizinstudent*innen lernen nur, wie weiße Patient*innen behandelt werden. Dabei ist doch völlig klar, dass sie auch BIPoC behandeln werden. Ändert sich da langsam etwas, gibt es Anpassungen in der Lehre?
Nach meinem Eindruck geht vieles auf Eigeninitative zurück. Ich muss mir diese Informationen aktiv suchen. Es gibt Initiativen wie das Bundesfachnetz Gesundheit und Rassismus und Einzelpersonen, die darauf aufmerksam machen, dass es diese Lücken gibt.
Sie beschreiben sogar, dass Sie als Ärzt*in mitbekommen haben, dass rassifizierte Menschen eher zum Üben genutzt wurden als weiße Menschen. Wie kann ich mir das vorstellen?
Ein klassisches Beispiel im Studium ist das Blutabnehmen, das man erst in der Praxis richtig lernt. Da ist es mir oft untergekommen, dass, wenn da ein Patient oder eine Patientin ist, der oder die nicht gut Deutsch spricht und als „fremd“ wahrgenommen wird, oder auch bei Patient*innen ohne Krankenversicherung, Ärzt*innen öfter sagen: Da kannst du einfach mal üben gehen. Zum ersten Blutabnehmen wird man eben nicht zur weißen, akademischen Privatpatientin geschickt.
Sie kritisieren die Haltung vieler Mediziner*innen: „Als Ärzt*innen wird uns beigebracht, die Deutungshoheit über die Körper anderer zu haben.“ Was meinen Sie damit?
Es gibt natürlich keine Fortbildung, die heißt: „Ihr wisst besser über Körper Bescheid als die Menschen, die es betrifft“, aber es gibt im Medizinstudium viele solche Dinge, die implizit beigebracht werden. Unter Mediziner*innen gibt es zum Beispiel den Begriff der „schwierigen Patient*innen“. Damit ist oft einfach eine Person gemeint, die Fragen stellt und für sich selbst eintritt, beispielsweise indem sie eine bestimmte Therapieform ablehnt. Das ist total legitim, aber es wird unter Ärzt*innen als etwas Irritierendes gesehen. Als jemandem, der nicht aus einer akademischen Familie kommt, ist mir oft auch ein bestimmtes Selbstverständnis bei so manchen Studierenden aufgefallen. Es sind größtenteils gutgestellte und privilegierte Menschen, die Medizin studieren können – beispielsweise nachdem ihre Eltern schon Ärzt*innen waren. Bei der Immatrikulation gab es eine Rede, da hieß es, wir seien die zukünftige Elite des Landes. Ich dachte erst, dass das ein Witz wäre. Aber das war tatsächlich ernst gemeint.
Sie legen den Finger in die Wunde, kritisieren die verschiedensten Formen von Diskriminierung im Medizinbetrieb. Wie verhalten sich Kolleg*innen und Vorgesetzte Ihnen gegenüber? Sieht man Sie als Nestbeschmutzer*in?
Es hat mich durchaus Mut gekostet, dieses Buch zu schreiben und unter meinem Namen zu veröffentlichen. Ich hatte große Angst und Sorge, wie dieses Buch wahrgenommen werden könnte. Ich bin gespannt, was für Rückmeldungen kommen werden.
Sabina Schwachenwalde (geboren 1991) ist Ärzt*in. Nach einer Ausbildung in der Geburtshilfe wechselte Schwachenwalde in die Allgemeinmedizin. Durch eine Long-Covid-Erkrankung lernte Schwachenwalde das Gesundheitssystem auch von der Patient*innenseite kennen