Älter werden: Bin ich jetzt frühzeitlich?

Antje Schrupp benutzt das Gendersternchen, daher wird es auch in diesem Text verwendet.

Ich bin gerade 60 Jahre alt geworden. Eine Zahl, die ich immer mit Altsein
assoziiert habe. Mit 60 hat man graue Haare (check), schon das ein oder andere
Zipperlein (check) und steht der Welt im Allgemeinen skeptisch bis grantelig
gegenüber (check).

Ich weiß, das sind alles Klischees. Graue Haare sind schon lange kein
Zeichen mehr fürs Altsein, erstens, weil wir färben, zweitens, weil graue Haare
heute cool sind. Bei meinem letzten Haarschnitt erzählte mir die Friseurin, es
gebe seit einiger Zeit eine echte Nachfrage von jungen Frauen nach Graufärben.
Keine Ahnung, ob das wirklich ein Trend ist, sicher weiß ich jedoch, dass ich
für meine graue Haarfarbe Komplimente bekomme.

Auch die körperlichen Beschwerden, die sich hier und da bemerkbar machen,
können noch nicht wirklich aufs Alter geschoben werden. Wenn ich nach meinen
Social-Media-Streams gehe, assoziiere ich Krankheiten inzwischen sogar eher mit
jüngeren Menschen, einfach weil sie viel offener darüber sprechen als wir in
ihrem Alter. Viele von ihnen teilen ihre Diagnosen und Behandlungen öffentlich,
was ich mit einer Mischung aus Bewunderung und Irritation verfolge.

Und schließlich die Haltung zur Welt: Da haben sich die Verhältnisse
regelrecht gedreht. Es sind doch die Jungen, die uns Ältere ständig an die
bevorstehenden Katastrophen erinnern müssen, während wir so tun, als wäre
nichts.

Vor ein paar Wochen habe ich kurz überlegt, ob ich meinen Sechzigsten
groß feiern sollte. Aber ich habe mich dagegen entschieden – einfach weil
es überhaupt kein Einschnitt ist. Was gibt es denn zu feiern? Nur das ganz
normale Älterwerden, aber das findet auch mit 59 oder 61 statt und braucht bei
der 60 nicht mehr Tamtam als in den anderen Jahren.

Die Rente ist noch sieben Jahre entfernt

Ich fühle keine Veränderung. Die Rente ist noch sieben Jahre entfernt,
was mich ein bisschen wurmt. Schließlich galt, als ich 1989 meinen ersten
Arbeitsvertrag unterschrieb, noch die Rente mit 60 (für Frauen). Am Anfang
meines Erwerbslebens haben die meisten älteren Kolleg*innen spätestens mit 60
aufgehört, zu arbeiten, viele sogar noch früher – mit vollen Bezügen, vom Staat,
also uns allen, bezahlt. Auch die Männer übrigens. Mit ihrer Frühverrentung
machten sie Arbeitsplätze für Jüngere frei. Jetzt haben wir Fachkräftemangel,
und am besten soll gar niemand mehr in Rente gehen. Ich gebe zu, dass das
angesichts der Altersstruktur unserer Gesellschaft nachvollziehbar ist, auch
wenn es mir ein klein wenig ungerecht erscheint.

Rente ist übrigens das Partygespräch schlechthin für Leute in meinem
Alter, wie ich auf den zahlreichen Partys zu 60. Geburtstagen dieses Jahr beobachtet
habe. Wann gehst du? Wie lange musst du noch? Kannst du dir den Abschlag
leisten? Die Bandbreite der vertretenen Meinungen ist groß: Manche fiebern dem
letzten Arbeitstag regelrecht entgegen (beziehungsweise der „passiven Phase der
Altersteilzeit“), andere hoffen, dass das Renteneintrittsalter demnächst noch
weiter erhöht wird, weil sie Angst haben, ohne Erwerbsarbeit zum alten Eisen zu
gehören.

Vielleicht ist das die frappierende Erkenntnis des Sechzigwerdens: Meine
Alterskohorte ist auseinandergedriftet. Neulich fielen mir Fotos meiner ersten
Schulklasse in die Hände, und mein spontaner Gedanke war: Mensch, haben wir uns
alle ähnlich gesehen, damals als Sechsjährige. Vor allem, wenn man uns heute
vergleicht. Sechsjährige Kinder sind körperlich und mental auf einem ähnlichen
Entwicklungsstand. 60-Jährige nicht mehr. Mit 60 schaffen die einen keine
drei Stockwerke mehr zu Fuß, während die anderen fröhlich Marathon laufen. Die
einen verbringen ihren Urlaub wandernd im Odenwald, die anderen jetten nach
Dubai. Die einen haben einen großen Freundeskreis, die anderen sitzen allein
vorm Fernseher. Manche kommen finanziell gerade so über die Runden, andere
schwimmen im Geld. Die einen sind bei den Omas gegen Rechts aktiv, die anderen
wählen die AfD.

60-Jährige haben mit anderen 60-Jährigen so gut wie nichts
gemeinsam. Und das stimmt nicht nur für diejenigen, die schon als Kinder mit
unterschiedlichen Startchancen ausgestattet waren, sondern auch für die, die
ursprünglich aus sehr ähnlichen Verhältnissen kommen. Das Leben ist eine
gigantische Unterschied-Erzeugungsmaschine, in einer wilden Kombination aus
äußeren Umständen, eigener Entscheidung und Glück beziehungsweise Pech.
Manchmal kommt eine akkumulierte Menge an Kleinigkeiten zusammen und lenkt ein
Leben in diese oder jene Richtung. Manchmal braucht es aber nur einen einzigen
Schicksalsmoment und etwas kippt: eine Trennung, eine Krankheit, ein
beruflicher Erfolg oder Misserfolg.