Actionszenen jener Weltliteratur: Als Thomas Mann mit dem Nachtzug entgleiste – WELT
„Ich fuhr damals nach Dresden, eingeladen von Förderern der Literatur. Eine Kunst- und Virtuosenfahrt also, wie ich sie von Zeit zu Zeit nicht ungern unternehme. Man repräsentiert, man tritt auf, man zeigt sich der jauchzenden Menge; man ist nicht umsonst ein Untertan Wilhelms II.“ Wenn Thomas Mann einen Nachtzug besteigt, geht nicht irgendein Schriftsteller an Bord. Sondern einer, der sich und seine Zeit mit Ironie in Szene zu setzen weiß.
Am Bahnsteig in München hadert der Schriftsteller kurz damit, sein Manuskript nicht im Handgepäck verstaut, sondern mit dem Koffer im Gepäckwagen aufgegeben zu haben. „Nun, dachte ich, keine Besorgnis, er ist in guten Händen! Sieh diesen Schaffner an mit dem Lederbandelier, dem gewaltigen Wachtmeisterschnauzbart und dem unwirsch wachen Blick. Sieh, wie er die alte Frau in der fadenscheinigen schwarzen Mantille anherrscht, weil sie um ein Haar in die zweite Klasse gestiegen wäre. Das ist der Staat, unser Vater, die Autorität und Sicherheit.“
Das deutsche Kaiserreich suggeriert mit Strenge, dass alles mit rechten Dingen zugeht. „Es pfiff, die Lokomotive antwortete, der Zug setzte sich sanft in Bewegung.“ Der Schriftsteller bleibt noch eine Weile am Fenster stehen, dann zieht er sich in sein Abteil zurück. Der Schlafwagen ist wenig ausgelastet, ein verhaltensauffälliger Mitreisender ist durch die dünne Wand aus dem Nachbarabteil zu hören – er empfindet es offenbar als Zumutung, mit dem Zugbegleiter sprechen zu müssen. Kontaktlose Ticketkontrolle („Komfort Check-in“) gab es bis 2018 halt noch nicht, das Rauchverbot kam auch erst 2006. So tritt der Schriftsteller, der weder zum Lesen noch zum Schlafen geneigt ist, auf den Gang und pafft.
Dann, es dürfte inzwischen nach halb elf sein, schlüpft er zurück ins Abteil, das er spöttisch als „Schlafzimmerchen“ beschreibt: „O große Neuzeit!“ Und noch während er ans Waschbecken tritt, „um etwas Toilette zu machen“, passiert es. Das Eisenbahnunglück. „Ich weiß es wie heute.“ Ein Stoß, nicht irgendein Stoß, sondern einer, „der sich sofort als unbedingt bösartig kennzeichnete“, schleudert den Schriftsteller mit der Schulter schmerzhaft gegen die Abteilwand. Er erwartet das „Kentern des Wagens“. Dann steht der Zug. Totenstille, „Damenschreie“ in der Ferne.
Die Stimme des Schlafwagenbeamten ertönt: „Das war eine Entgleisung.“ Der Schriftsteller notiert später: „Es war fast finster, aber man sah doch, dass bei uns hinten den Wagen eigentlich nichts fehlte, obgleich sie schief standen.“ Doch an der Zugspitze: Trümmerwüste, verkeilte Sitzbänke, auch Verletzte? Menschenverluste seien, gottlob, wohl nicht zu beklagen, heißt es. Der Schriftsteller prüft sein Herz, kann jetzt nur noch an sein Manuskript im Gepäckwagen denken: „Ich hatte keine Abschrift“. Später die Entwarnung: Der Koffer ist heil. Die Fahrt kann mit einem Ersatzzug fortgesetzt werden.
Entgleist in Regenstauf
Thomas Mann befand sich an Bord des Nachtzuges, der München am 1. Mai 1906 um 18:23 Uhr mit dem Fahrtziel Berlin verließ und 15 Kilometer hinter Regensburg, im Bahnhof Regenstauf, entgleiste. Eine defekte Weiche hatte den Schnellzug auf ein Nebengleis geleitet und einen dort abgestellten Güterzug auffahren lassen.
Die Zeitungen berichteten, dass nur die Geistesgegenwart des Lokführers, der die sofortige Notbremsung vollzog, Schlimmeres verhindert habe. Niemand kam zu Tode. 1909 veröffentliche Thomas Mann seine Erzählung „Das Eisenbahnunglück“ in der Wiener Zeitung „Neue Freie Presse“, im gleichen Jahr erschien sie auch in Buchform, zusammen mit „Der kleine Herr Friedemann“ und anderen Erzählungen, bei S. Fischer.
Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.
Im Herbst erscheinen „111 Actionszenen der Weltliteratur“ als Buch.
Source: welt.de