Abrechnungs-Betrug zusammen mit Pflege und Medikamenten: Deutsche Krankenkassen stellen Strafanzeige – WELT
Der Vorwurf wiegt schwer: Bei einem ambulanten Pflegedienst sollen hochgradig Pflegebedürftige von Personal versorgt worden sein, das für diese intensivmedizinische Betreuung gar nicht ausgebildet war.
„Lebensnotwendige Medikamente wurden fehlerhaft gegeben, eklatante Mängel in der Hygiene in Kauf genommen und zudem Leistungen abgerechnet, die nie erbracht wurden“, schildert Dina Michels, Chefermittlerin der Kaufmännischen Krankenkasse KKH, die Folgen. Die KKH hat neben anderen Krankenkassen deshalb Strafanzeige erstattet, die Schadenssumme soll im Millionenbereich liegen.
Das Beispiel ist nur eines von vielen Verdachtsfällen, denen Michels und ihr Team im vergangenen Jahr nachgegangen sind, um Betrug im Gesundheitswesen aufzuspüren. Insgesamt beziffert die Kasse den Schaden durch Betrug, Korruption oder Urkundenfälschung im Jahr 2023 in ihrem aktuellen Report auf rund 3,5 Millionen Euro. Das sei eine der höchsten Gesamtschadenssummen seit dem Start der Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation vor 23 Jahren.
Im Vorjahr hatte die Kasse einen Schaden durch bewusste Falschabrechnungen in Höhe von mehr als einer Million Euro verzeichnet. Den größten Schadenswert verursachten dem aktuellen Report zufolge ambulante Pflegedienste mit rund 1,9 Millionen Euro, gefolgt von Apotheken mit rund einer Million Euro. Dem gegenüber standen Regressforderungen der Kasse an die beschuldigten Dienste und Praxen in Höhe von 1,35 Millionen Euro.
Die KKH ist eine von 96 gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland. Die Zahlen, die sie ermittelt, sind nur die Spitze des Eisbergs. Im sogenannten Fehlverhaltensbericht, den der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen GKV regelmäßig vorlegt, summierten sich die Schäden für die Jahre 2020/2021– aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor – bundesweit auf 132 Millionen Euro.
Experten zufolge ist die Dunkelziffer in diesem Bereich allerdings enorm hoch. Nach Schätzungen des europäischen Netzwerks EHFCN zweigen Betrüger jährlich rund 56 Milliarden Euro aus den europäischen Gesundheitssystemen ab. Eine Untersuchung der OECD aus dem Jahr 2017 spricht sogar von sechs Prozent der jährlichen Gesundheitsleistungen in Europa, die dem System durch Betrug verloren gehen.
Höchste Schadenssumme in der Pflege
Besonders problematisch ist die Situation in der Pflege. Das spiegelt sich auch in den Zahlen der KKH, wo im vergangenen Jahr nicht nur die höchste Schadenssumme verzeichnet wurde, sondern auch die meisten Hinweise auf mögliche Abrechnungsmanipulationen eingegangen sind.
Zwei Drittel der insgesamt 553 Neufälle seien auf das Konto von ambulanten oder stationären Pflegeeinrichtungen gegangen, teilte die KKH mit. Rang drei belegten Krankengymnastik- und Physiotherapie-Praxen.
Der Pflegebereich, immerhin drittgrößtes Segment im deutschen Gesundheitswesen, habe sich damit zu einem Brennpunkt entwickelt. Insgesamt dürften die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nach Schätzungen der GKV in diesem Jahr auf 314 Milliarden Euro steigen. „Das weckt bei manch einem Begehrlichkeiten, sich ein Stück vom Milliardenkuchen Gesundheitssystem abzuschneiden“, sagte KKH-Chefermittlerin Michels.
Es gehe zwar immer nur um wenige schwarze Schafe, doch diese schadeten ihrem jeweiligen Berufsstand enorm und gefährden mitunter sogar Menschenleben, um illegal hohe Summen zu kassieren. Dazu zähle etwa auch der Fall eines Apothekers aus Sachsen, der im vergangenen Jahr unterdosierte Krebsmedikamente in den Handel gebracht hatte.
Noch problematischer als die rein wirtschaftlichen Schäden durch solche Betrugsfälle seien vor allem die körperlichen und seelischen Folgen für Patienten und ihren Angehörigen. „Durch solche Machenschaften schwindet das Vertrauen in die qualitativ gute Gesundheitsversorgung in unserem Land“, warnte Michels.
Eine von der KKH in Auftrag gegeben Forsa-Umfrage spiegelt das. Demnach haben 58 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 70 Jahren selbst schon Erfahrungen mit Betrugsdelikten im Gesundheitswesen gemacht oder kennen Betroffene.
So gaben 41 Prozent der Befragten an, dass aus ihrer Familie oder Bekanntenkreis jemand trotz anerkanntem Pflegegrad nicht ausreichend versorgt wurde, etwa aufgrund unzureichend ausgebildeter Pflegekräfte oder nicht erbrachter Leistungen.
Zudem kennt jeder Vierte in seinem persönlichen Umfeld mindestens einen Patienten, der vom Facharzt an ein bestimmtes Krankenhaus überwiesen wurde und nicht das Krankenhaus seiner Wahl aufsuchen konnte.
Auch das seien Spielarten betrügerischen Verhaltens, so die KKH. Insgesamt halte der Umfrage zufolge mit 62 Prozent eine deutliche Mehrheit der Bürger das deutsche Gesundheitswesen für anfällig in Bezug auf Betrug und Korruption.
Source: welt.de