ABB-Präsident Voser: „Wir die Erlaubnis haben die Schweiz nicht abschotten“

Herr Voser, der deutsche Kettensägenhersteller Stihl hat jüngst in der F.A.Z. die Rahmenbedingungen in der Schweiz gelobt und jene in Deutschland kritisiert. Wie sehen Sie das? Ist die Schweiz als Standort tatsächlich so viel besser als Deutschland?

Der Standort Schweiz hat nach wie vor sehr viele Vorteile. Dazu zähle ich das gute Ausbildungssystem, die hohe Innovationskraft, gerade auch im Mittelstand, und die im Vergleich zu Deutschland niedrigeren Steuern. Als kleines Land gelingt es der Schweiz recht gut, sich pragmatisch auf Veränderungen einzustellen und entsprechend anzupassen. Die Gewichte in der Industrie sind allerdings auch anders verteilt als in Deutschland. Wir haben zum Beispiel keine große Autoindustrie. Auch die politische und finanzwirtschaftliche Stabilität trägt zum hohen Stellenwert der Schweiz bei.

Aber droht die Schweiz nicht ihre Stärken zu verspielen? Schließlich gibt es von rechts, also der Schweizerischen Volkspartei (SVP), und von links, den Gewerkschaften, großen Widerstand gegen das geplante Abkommen mit der EU, das der Schweiz den freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt sichern und den Weg zu wichtigen neuen Verträgen ebnen würde.

Für mich ist ganz klar, dass wir eine Verhandlungslösung finden müssen, die den Fortbestand der bilateralen Verträge mit der EU langfristig sichert. Die Schweizer Industrie braucht das, auch um Rechtssicherheit zu haben. Wir müssen eine sachliche Diskussion führen und dürfen uns von der SVP und den Gewerkschaften nicht abhängig machen. Deren Allianz ist nicht hilfreich. Es war immer eine Stärke der Schweiz, pragmatische Lösungen zu finden, um Probleme aus der Welt zu schaffen.

Was passiert, wenn die Verhandlungen scheitern und die exportstarke Schweizer Wirtschaft ihren privilegierten Zugang zur EU schrittweise verliert?

Das wäre fatal für die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die auf Exporte angewiesen sind, weil ihre Produktionsstätten vor allem in der Schweiz liegen. Und Export macht rund 80 Prozent unseres Bruttosozialprodukts aus. Die EU ist für diese Firmen der mit Abstand wichtigste Markt. Große Konzerne wie ABB sind viel flexibler. Wir stehen zum Standort Schweiz, aber wir könnten die Produktion oder Investitionen theoretisch relativ einfach an andere Standorte in der EU verlagern, falls wir von der Schweiz aus den Marktzugang verlieren.

Die rechten Gegner stören sich an der geltenden Personenfreizügigkeit, die EU-Bürgern eine Einwanderung in die Schweiz erlaubt, und beklagen die starke Zuwanderung. Wie sehen Sie das?

Wir sind in der Schweiz darauf angewiesen, dass ausländische Fachkräfte zu uns kommen. Ohne sie verlieren wir unsere Innovationskraft und damit den großen Vorteil, den wir heute haben. Die Zuwanderung sollte jedoch in gewissen Grenzen gehalten werden, um zum Beispiel die Wohnungsnot nicht noch weiter zu verschärfen. Wir dürfen die Schweiz aber nicht abschotten.

Peter Voser führt seit April 2015 den Verwaltungsrat von ABB.
Peter Voser führt seit April 2015 den Verwaltungsrat von ABB.Wolfgang Eilmes

Forscher sagen, dass es wegen der alternden Gesellschaft in Europa künftig nicht weniger, sondern mehr Migranten braucht, um den Wohlstand zu wahren.

Das stimmt. Binnen zehn Jahren müssen wir in Europa rund 50 Millionen Arbeitskräfte ersetzen. Nur ein Teil davon kann durch Automatisierung abgefedert werden. Wir brauchen also viele neue Zuwanderer, zumal es einen Trend zur lokalen Fertigung vor Ort gibt, weil die Konsumenten vermehrt regionale Produkte kaufen wollen. Befeuert durch ein verschärftes Risikomanagement, werden auch Teile der Lieferketten näher zu den lokalen Märkten in Europa kommen. Dafür brauchen Sie noch mehr Leute.

Mit den jüngsten Zollerhöhungen der amerikanischen Regierung eskaliert der Handelskonflikt zwischen den USA und China. Welche Folgen hat das?

Wir bei ABB wollen uns möglichst unabhängig machen von geopolitischen Verwerfungen und Handelsrestriktionen. In China produzieren wir 85 Prozent dessen, was wir dort verkaufen. In Europa sind es 95 Prozent, in Nordamerika 75 Prozent. Aber wir überlegen ständig, wie wir unser Geschäft noch risikoärmer machen können. Im Fall von China sind wir dabei, die Exporte aus diesem Land weiter zu verringern.

China ist eine Einparteien-Diktatur, die eines Tages Taiwan überfallen könnte. Wie stellt sich ABB auf dieses geopolitische Risiko ein? China ist ja inzwischen Ihr zweitgrößter Markt.

Wir spielen auch durch, wie wir auf einen Überfall auf Taiwan reagieren könnten. Da gibt es verschiedene Szenarien. Wie im Fall von Russland müssten wir uns Gedanken über die Zukunft machen. In Russland war die Situation sehr klar: Wir haben unsere Geschäfte geschlossen.

Der Konflikt zwischen den USA und China trifft ABB auch direkt. Die Amerikaner fürchten, dass ABB-Software in Hafenkränen aus China für Spionagezwecke oder gar Sabotage in den USA genutzt werden könnte. Was sagen Sie zu diesem Verdacht?

Wir sind dazu in Gesprächen mit zwei Ausschüssen in Amerika und legen dar, welche Rolle die Technologie von ABB spielt. Mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen. Man muss das auch in einem größeren Kontext sehen.

Sie meinen den Wahlkampf in Amerika?

Das haben Sie gesagt.

Geht die Phase der Globalisierung zu Ende?

Nein, sicher nicht. Die Globalisierung hat zu viel Wachstum gebracht und zu viele Menschen aus der Armut geholt, als dass sie plötzlich zu Ende gehen könnte, aber sie verändert sich. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten in einer unipolaren Welt gelebt, dominiert von den USA. Jetzt geht es in Richtung einer multipolaren Welt, die durch viele verschiedene Allianzen geprägt ist. Länder kooperieren in der Verteidigung, in Sicherheits- oder Energiefragen. Zugleich gibt es immer noch Platz für den globalen Austausch von Produkten und Technologie.

Geht mit dieser Entwicklung auch ein Trend zum „Reshoring“ einher, also der Rückverlagerung von Produktionsstätten aus Schwellenländern in die Industriestaaten?

Ja, dieser Trend ist klar zu erkennen. Aus den Verwaltungs- und Aufsichtsräten vieler Firmen höre ich Diskussionen darüber, dass man als Nächstes nicht ein großes Werk, sondern mehrere kleinere Fabriken an verschiedenen Standorten auch in Europa bauen wolle. Dank Automatisierung, Robotik und Künstlicher Intelligenz kann man in Europa heute fast so günstig produzieren wie in Asien. In meinen Augen wird es also zu einer gewissen Reindustrialisierung Europas kommen.

Braucht es Subventionen, um diesen Trend zu verstärken?

Wir brauchen eine Industriepolitik, die gewisse Anreize setzt. Weiter aufstocken muss Europa die Subventionen deshalb aber nicht.

Linke Initiativen gewinnen in der Schweiz an Zulauf, wie die jüngste Zustimmung zur Auszahlung einer 13. Monatsrente zeigt. Spiegelt sich darin eine gewisse Entfremdung der Bevölkerung von der Wirtschaft, deren Gehaltsexzesse immer wieder für Unmut sorgen?

Ich finde, dass dieses Thema in den Medien übertrieben dargestellt wird. In der Rentenabstimmung haben die älteren Leute erkannt, dass sie etwas für das eigene Portemonnaie tun können – zulasten der Jugend. Da zeigte sich eine für die Schweiz eigentlich untypische „Für-mich-zuerst-Mentalität“. Eine Verbindung zu den Lohnexzessen von zwei oder drei Managern sehe ich nicht. Aber klar ist auch: Die globalen Konzerne müssen wieder näher an die Bevölkerung rücken.

Wie wollen Sie sich der Bevölkerung nähern, wenn Sie Ihrem Vorstandsvorsitzenden Björn Rosengren, wie 2023 geschehen, ein Jahressalär von 16 Millionen Franken auszahlen?

Diese Summe kam durch den starken Kursanstieg der ABB-Aktien zustande, die wir Björn Rosengren schon vor drei Jahren als Teil eines umfassenden Anreizprogramms gewährt haben. Wäre der Kurs in die entgegengesetzte Richtung gegangen, wären seine Bezüge gesunken. Dann würde niemand darüber sprechen.

Unter Rosengrens Führung ist ABB deutlich schlanker und erfolgreicher geworden. Trotzdem übernimmt Anfang August Rosengrens Vorstandskollege Morten Wierod das Zepter. Warum?

Es war ausgemacht, dass Rosengren rund fünf Jahre bleibt. Dass er nun ein paar Monate früher geht, hängt damit zusammen, dass er die gesteckten Ziele vorzeitig erreicht hat und die Transformation des Konzerns abgeschlossen ist. Das war für den Verwaltungsrat eine natürliche Trennlinie: Für die nun folgende Wachstumsphase geben wir ABB in die Hände von Morten Wierod. Und das habe ich mit Björn auch bereits früh im vergangenen Jahr besprochen.

Was erwarten Sie von Wierod?

Seine Aufgabe ist es, den Umsatz jährlich um 5 bis 7 Prozent zu erhöhen und die operative Gewinnmarge auf 16 bis 19 Prozent zu steigern. Auf diesem Weg sind wir auch offen für größere Akquisitionen in unseren Hauptfeldern Elektrifizierung, Antriebstechnik, Prozessautomation und Robotik.

Im Zuge der Aufräumarbeiten hat ABB mehrere Geschäftsfelder verkauft und zum Teil auch an die Börse gebracht. Aber der Börsenplan für das Geschäft mit Ladesäulen für Elektrofahrzeuge (E-Mobility) ist bisher nicht aufgegangen. Haben Sie die Qualitätsprobleme in dieser Sparte inzwischen behoben?

Vor Kurzem haben wir ein neues Spitzenprodukt lanciert. Damit stabilisieren wir operativ die Lage. Der Vertrieb unserer Produkte war schmerzhafter, als wir gedacht haben. Aber da sind wir jetzt auf einem guten Weg. Der Zeitpunkt des Börsengangs hängt vom Markt ab – und der ist kollabiert. Die Subventionen für Elektroautos wurden gekappt. In einem solchen Umfeld ist es nicht sinnvoll, Anlauf auf die Börse zu nehmen.

Welche Bedeutung hat Künstliche Intelligenz (KI) im Geschäft von ABB?

Rund 60 Prozent unserer Produkte sind heute mit Software bestückt. Diese arbeitet zunehmend mit KI. Konkret haben wir rund hundert KI-Projekte am Laufen, die zentral gesteuert werden. Damit stellen wir sicher, dass die Erkenntnisse aus diesen Anwendungen richtig geteilt werden.

Was halten Sie von dem geplanten KI-Gesetz der EU?

Wir brauchen eine KI-Regulierung und hoffen, dass sich dabei weltweit dieselben Standards durchsetzen. Einen Flickenteppich können wir nicht gebrauchen. Falls das KI-Gesetz in Europa praxis- und anwendungsorientiert umgesetzt wird, könnte es einen wichtigen Beitrag für eine globale Regulierung leisten.

Nun zu Ihnen, Herr Voser. Sie werden im August 66 Jahre alt und sind schon neun Jahre Verwaltungsratspräsident von ABB. Wie lange machen Sie noch weiter?

Den Statuten nach dürfte ich bis zu meinem 72. Lebensjahr bleiben. Eine Amtszeitbegrenzung gibt es im Verwaltungsrat nicht. Nach dem CEO-Wechsel ist klar, dass ich Morten Wierod auf seinem Weg noch begleite, zumal mir die Arbeit hier nach wie vor sehr viel Spaß macht.

Großen Spaß haben Sie auch am Fußball. Sind Sie im Stadion, wenn die Schweiz am 23. Juni im letzten Vorrundenspiel der EM in Frankfurt gegen Deutschland spielt?

Ja, ich werde im Stadion sein.

Wie geht das Spiel aus?

Ich tippe auf ein Unentschieden, 1:1.

Sehr diplomatisch.

Ja, so sind die Schweizer.

Zur Person

Peter Voser führt seit April 2015 den Verwaltungsrat von ABB. Der 65 Jahre alte Schweizer ist der starke Mann im Zürcher Industriekonzern, der mit 105.000 Beschäftigten  zuletzt einen Umsatz von gut 32 Milliarden Dollar erwirtschaftet hat und zu den größten Rivalen von Siemens gehört. Voser war die treibende Kraft bei der Dezentralisierung und Verschlankung des Geschäfts, das sich heute vor allem um Automatisierung und Elektrifizierung dreht. Der Betriebswirt begann seine Karriere in Diensten des Ölkonzerns Royal Dutch Shell. Nach Stationen in Großbritannien, Argentinien und Chile stieg Voser bis zum Finanzchef für Ölprodukte auf, bevor er 2002 zur schwer angeschlagenen ABB nach Zürich wechselte. Die erfolgreiche Sanierungsarbeit in der Heimat weckte die Begehrlichkeit von Shell, das seinerzeit ebenfalls in eine Krise geriet. Wohl nicht zuletzt weil Voser der erhoffte Sprung an die ABB-Spitze versagt blieb, kehrte er im Herbst 2004 als Finanzvorstand zu Shell zurück und avancierte 2009 zum Vorstandsvorsitzenden. Ende 2013 gab er dieses Amt überraschend auf, um mehr Zeit für seine Familie zu haben. Seine Frau Daniela und die drei Kinder waren in der Schweiz wohnen geblieben. rit.