„A Song for Esther“: Candice Breitz würdigt die Antifaschistin Esther Bejarano
Peaches nennt sie „Bad Ass“: Ein Abend auf Kampnagel in Hamburg erinnerte an die Shoah-Überlebende und Antifaschistin Esther Bejarano. Organisiert von der Künstlerin Candice Breitz, soll auch an Bejaranos Kritik an Israel angeknüpft werden
Esther Bejarano (1924–2021) wollte nach dem Holocaust 70 Jahre lang nichts mehr von dem Lied „Bel Ami“ wissen. Erst gegen Ende ihres Lebens nahm sie das Lied wieder in ihr Repertoire auf
Foto: Susanne Brill
Gegen Ende des Abends steht Peaches auf der Hamburger Kampnagel-Bühne. Die Electro-Musikerin steckt in einem goldfarbenen Overall, der glamourös und funktional zugleich wirkt, die Bässe bollern, dass die Wände wackeln. Wie (fast) alle Musiker an diesem Abend, spielt die Kanadierin eine persönliche Version des Schlagers Bel Ami, der 1939 durch den gleichnamigen Film von Willi Forst bekannt wurde. Damals ein Hauch sündiges Flair im großdeutschen Mief der Nazis. Für die junge jüdische Pianistin Esther Bejarano war das Lied 1943 die einzige Möglichkeit, der mörderischen Zwangsarbeit zu entfliehen und in das Mädchenorchester von Auschwitz zu wechseln.
Obwohl sie vorher noch nie Akkordeon gespielt hatte, quetschte das Mädchen die Melodie aus dem ungewohnten Instrument. „Bad Ass“ nennt Peaches sie anerkennend, „you faked your way into the Mädchenorchester“. Doch was Peaches und die anderen Künstler noch mehr begeistert, ist das antifaschistische und antizionistische Vermächtnis der im Juli 2021 mit 96 Jahren verstorbenen Aktivistin und Musikerin. Für ersteres wurde Bejarano von der Politik ausgiebig geehrt und gefeiert, ihre kritische Haltung gegenüber Israel hat man dagegen meist dezent übergangen. Soweit das möglich war.
Gedenken ist in Deutschland keine einfache Sache: Wessen wird gedacht und auf welche Weise? Woran erinnert man sich und was verschweigt man lieber? Die von Candice Breitz initiierte Veranstaltung A Song for Esther ist für die in Südafrika geborene und in Berlin lebende jüdische Künstlerin „ein vergängliches Mahnmal in Form eines Konzerts“.
Die Liste der teilnehmenden Musiker:innen und Bands ist lang, so prominent wie Peaches nur die wenigsten. Doch letztlich ging es wohl auch um die Vielfalt der Stimmen, die gemeinsam ein „Never Again“ fordern, das universell gilt – auch für Palästinenser:innen. Zugleich ist der Abend aber auch eine Art Comeback für Breitz, die wegen ihrer Israel-Kritik von deutschen Zeitungen, etwa der Welt, zuletzt hart angegangen wurde.
Mit „A Song for Esther“ arbeitet Candice Breitz nach zwei Jahren wieder in Deutschland
Zum Einstieg wird der neunminütige Kurzfilm „Dear Esther“ gezeigt, den Breitz für den diesjährigen Steirischen Herbst gedreht hat. Da sieht man aus der Vogelperspektive, wie Menschen mit Hilfe von Wassermelonen einzelne Worte formen: „Auschwitz“, „Dehumanize“, „Erasure“. Die Behauptung einer Kontinuität des Schreckens steht im Raum und wird im Lauf des Abends eindrücklich vertieft. Angesichts der Kriegsverbrechen in Gaza und der israelischen Politik im Westjordanland versteht man natürlich, was die Künstlerin damit sagen möchte. Doch der singuläre Holocaust ist hier als Vergleich eine Nummer zu groß.
Zwischen den Auftritten von Künstlern wie Daniel Kahn, Lili Sommerfeld, dem Sialan String Quartett, der Sopranistin Polly Ott, oder der Rockband Die Anstalt, trägt Breitz Erinnerungen und Einschätzungen vor, die immer mit den Worten „Dear Esther“ beginnen. Vieles ist als Brief oder Traum imaginiert, aber immer nah an der Biografie von Bejarano, die Israel 1960 verließ und ins Land der Täter zurückkehrte. Auch deshalb, weil sie Israels Politik gegenüber den Palästinensern ablehnte und nicht wieder „Zeugin von Vertreibung und Tötungen“ werden wollte. Breitz ist selber Jüdin, so wie viele der auftretenden Künstler, den Abend hat sie im Dialog mit der Familie Bejarano geplant.
Es ist das erste Mal seit zwei Jahren, dass die in Berlin lebende Künstlerin wieder in Deutschland arbeitet. 2024 hatte das Saarlandmuseum in Saarbrücken eine mit ihr geplante Ausstellung gecancelt, wegen ihrer Aussagen zum Gaza-Krieg und vermeintlicher Nähe zum BDS. Man sei nicht bereit, „Künstler*innen ein Podium zu bieten, die sich nicht klar gegen den Terror der Hamas positionieren.“ Auf Instagram konterte Breitz damals: „Es ist möglich, die Hamas uneingeschränkt zu verurteilen (wie ich es tue) und gleichzeitig den breiteren palästinensischen Kampf für Freiheit von Unterdrückung, Diskriminierung und Besatzung zu unterstützen.“
„A Song for Esther“: Am Ende rufen alle „Free Palestine“
Eine Haltung, die an diesem Abend auch das Kampnagel-Publikum teilt, das jede Erwähnung des Leids der Palästinenser mit starkem Beifall quittiert. Es wird eine Menge abgearbeitet an diesem Abend, oder zumindest angesprochen und erwähnt – von den Debatten über Achille Mbembe und Masha Gessen, bis zum ungesühnten Völkermord der Deutschen an den Herero und Nama. Die Grenzen zwischen Konzert und Lecture verschwimmen, die auf Englisch vorgelesenen „Dear Esther“-Briefe nehmen ähnlich viel Zeit in Anspruch wie die Musik.
Die Idee, alle Sänger:innen und Musiker:innen einen einzigen Song für Esther Bejarano performen zu lassen – nämlich Bel Ami – wird im Verlauf des Abends ein wenig ermüdend. Auch wenn sich alle Beteiligten viel Mühe geben, dem Lied eine persönliche Note zu verleihen. So wie der großartige palästinensisch-syrische Pianist Aeham Ahmad, der 2015 durch seine Auftritte im Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus bekannt wurde. Chicks On Speed, die mit einem Bild der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese auf die Bühne kommen, sind die einzigen, die mit Oh Palestine auch noch einen eigenen Song vortragen.
Esther Bejarano selbst wollte nach dem Holocaust 70 Jahre lang nichts mehr von Bel Ami wissen. Erst gegen Ende ihres Lebens nahm sie das Lied wieder in ihr Repertoire auf und spielte es auf hunderten von Konzerten. Die meisten davon mit der Band Microphone Mafia, zu der neben ihrem Sohn Joram Bejarano am Bass auch der Rapper Kutlu Yurtsven gehört. Deren gelungener Auftritt beschließt dann auch den fast dreistündigen Abend. Am Ende kommen alle Künstler noch einmal auf die Bühne, um gemeinsam mit dem Publikum „Free Palestine“ zu fordern. Esther Bejarano hätte vermutlich mit eingestimmt.