Grünenparteitag: Der kleine Ausstieg vom Ausstieg

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Als die grünen Delegierten an diesem Freitag in Bonn aus der U-Bahn steigen, begegnen sie noch einmal ihrer eigenen Geschichte. Antiatomaktivisten haben die gesamte Theodor-Heuss-Allee dekoriert: Bis hin zum World Conference Center, wo an diesem Wochenende der 49. Grünen-Parteitag stattfindet, prangen an den Bäumen gelbe Atomkraft-Nein-Danke-Plakate.

Die Grünen und die Antiatomkraftbewegung waren einst untrennbar miteinander verbunden. Über 40 Jahre kämpfte diese Partei für den deutschen Atomausstieg. Doch die Zeiten haben sich geändert. In Europa herrscht Krieg, die Energiepreise sind in bisher ungekannte Höhen gestiegen. Und so stehen am späten Freitagabend ein grüner Bundeswirtschaftsminister und eine grüne Bundesumweltministerin in einem großen Tagungssaal und begründen eindringlich, warum der Atomausstieg doch noch einmal aufgeschoben werden muss.

Gerne tun sie das nicht, das machen sie deutlich: „Was der Bundesvorstand vorgelegt hat, ist eine Zumutung“, sagt Umweltministerin Steffi Lemke über den Dringlichkeitsantrag, mit dem die Grünen zustimmen sollen, zwei süddeutsche Atomkraftwerke nun doch bis voraussichtlich Frühjahr kommenden Jahres am Netz zu lassen. Als sie vor einem Jahr ins Amt gekommen sei, habe sie noch fest damit gerechnet, bis Jahresende den endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie feiern zu können, sagt Lemke.

Aber es seien nun mal Zeiten, in denen „wir den Menschen wahnsinnig viel zumuten“. Da müssten sich auch die Grünen als Partei etwas zumuten. „Wenn die Kraftwerke auch nur einen kleinen Beitrag zur Versorgungssicherheit in diesem Winter leisten können, dann soll man davor nicht die Augen verschließen“, sagt Lemke.

Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck erinnert sich an die Wurzeln der Grünenbewegung. Das Nein zur Atomkraft sei einst das Thema gewesen, das ihn überhaupt erst zu den Grünen gebracht habe. Doch weil die Energielücke in diesem Winter so groß sei – was auch am Versagen der französischen Atomkraftwerke liege –, dürfe man die Möglichkeit, etwas länger auf Atomenergie zu setzen, nicht von vornherein ausschließen.

Wahnsinnig schwierige Entscheidungen

Habeck hatte schon in einem ersten Redebeitrag wenige Stunden zuvor für die schwierigen Entscheidungen geworben, die die Grünen in den vergangenen Monaten treffen mussten. Diese Entscheidungen gingen weit über den Reservebetrieb für zwei AKW hinaus. Es ging um die Beschaffung von Gas bei saudischen Ölautokraten. Es ging um Flüssiggasterminals, die nun in großer Eile gebaut werden und zu denen die Grünen unter normalen Bedingungen wohl niemals ihre Zustimmung gegeben hätten. Es ging um Waffenlieferungen in die Ukraine und um Milliardenausgaben für die Bundeswehr.

„In einer wahnsinnigen Geschwindigkeit hat diese Partei wahnsinnig schwierige Entscheidungen getroffen und hat gestanden und hat bewiesen, dass sie zu Recht in der Verantwortung steht“, lobte Habeck die Delegierten beim Parteitag. Sicher gebe es über all diese Entscheidungen Debatten, räumte er ein. Aber Demokratie bestehe eben nicht im Festhalten an hehren Prinzipien, sondern im konkreten Handeln in der Wirklichkeit. Gleichzeitig sei aber bei allen Zugeständnissen, die nun von den Grünen verlangt würden, klar: „Fossile Energien und die Atomkraft sind nicht die Lösung. Sie haben uns die Probleme eingebrockt, die wir jetzt haben.“ Für diese Aussage feierten ihn die Delegierten mit donnerndem Applaus und Standing Ovations.

Alle überzeugte er jedoch nicht. Von mehreren Anträgen, die sich gegen den Reservebetrieb deutscher Atomkraftwerke wandten, blieb am Ende ein gemeinsamer übrig. Woher wisse man, dass der jetzigen Verschiebung des Ausstiegs nicht eine weitere folgen werde, fragte etwa Karl-Wilhelm Koch, einer der Zweifler. Aber auch der 31. Dezember sei bereits einmal schriftlich als Ausstiegstermin garantiert worden und gelte nun nicht mehr. Man lasse sich in dieser Frage zu sehr von jenen treiben, die einfach nur belegen wollten, dass die grünen Ideen zur Energieversorgung nicht funktionierten, fand hingegen Philipp Hiersemenzel, auch er ein Gegner des Reservebetriebs. Für die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität seien die zwei Atomkraftwerke anders als behauptet aber gar nicht notwendig.

„Es bricht mir das Herz“

Dass diese Position bei den Grünen gleichwohl eine kleine Minderheitenmeinung ist, wurde in der knapp einstündigen Debatte allerdings auch schnell deutlich. Bis auf die zwei Antragsteller, die den Reservebetrieb ablehnten, sprachen sich alle anderen dafür aus – wenn auch unter großen Schmerzen, wie immer wieder deutlich wurde. „Es bricht mir wirklich das Herz, aber wir haben keine Alternative“, sagte die Delegierte Jasmin Miah aus Berlin. „Der Vorschlag von Robert ist nicht vernünftig, aber er ist klug“, fand die ehemalige umwelt- und atompolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Sylvia Kotting-Uhl. „Wir leben nicht unter einer Glasglocke.“

Am Ende findet der Reservebetrieb eine sehr große Mehrheit. Auffallend aber auch: Menschen, die sich – etwa aus Klimagründen – für die Atomenergie aussprechen, gibt es bei den Grünen offenbar nicht.

Eine Abwehrschlacht gegen echte Laufzeitverlängerungen

Ohnehin ist das, was hier im Saal geführt wird, eher eine Abwehrschlacht als eine Abkehr von alten Idealen – auch wenn das manche Aktivisten vor der Halle anders sehen mögen. Die Grünen stehen derzeit nicht nur unter dem massiven Druck ihres Regierungspartners FDP. Auch große Teile der Gesellschaft wünschen sich angesichts steigender Energiepreise inzwischen einen umfangreichen Ausstieg vom Ausstieg aus der Atomenergie. Seit einer Woche wird in der Ampel erbittert über die Forderung der FDP gestritten, die Laufzeiten für alle drei Atomkraftwerke bis mindestens 2024 zu verlängern.

Eine Lösung ist bisher nicht in Sicht, und der grüne Parteitagsbeschluss dürfte die Sache noch erschweren. Der Beschluss fiel auf Drängen des ehemaligen Umweltministers Jürgen Trittin, der einst den ersten Atomausstieg verhandelt hat, sogar noch klarer und eindeutiger aus als zunächst vom Bundesvorstand vorgesehen. So wird in dem Papier nun – anders als in der ersten Fassung – der 15. April 2023 als absoluter Endpunkt für den Weiterbetrieb der AKW genannt. Außerdem wird festgehalten, dass die grüne Bundestagsfraktion einer gesetzlichen Regelung zur Beschaffung neuer Brennelemente nicht zustimmen wird. Ohne diese wird ein Weiterbetrieb der Kraftwerke unmöglich sein. Ein Weiterbetrieb des niedersächsischen AKW Emsland über das Jahresende hinaus wird ausgeschlossen. Außerdem sollen auch die zwei süddeutschen AKW nur dann noch bis zum Frühjahr laufen, wenn die Bundesregierung „unter Mitwirkung des Bundestags“ feststellt, dass das im Stresstest beschriebene Krisenszenario auch tatsächlich eingetreten ist.

Auch Habeck muss sich dem Stresstest stellen – allerdings eher einem innerkoalitionären. Für Verhandlungen mit Bundeskanzler Olaf Scholz und den Liberalen hat er so gut wie keinen Spielraum. Jede Entscheidung, die über die Vorgaben der Partei hinausgeht, dürfte zu schweren innerparteilichen Verwerfungen führen.

Nur eine erste Schlacht gewonnen

Auf dem Parteitag hat Habeck wie erwartet die erste Schlacht für sich entschieden. In den kommenden Tagen aber stehen noch Abstimmungen an, bei denen die Grünendelegierten sich als weniger folgsam erweisen könnten. Eine davon ist der Streit um den Abriss des Dorfes Lützerath im niederrheinischen Braunkohlerevier.

Habeck und die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Mona Neubaur hatten zuletzt mit dem Energiekonzern RWE einen Kompromiss ausgehandelt. Danach darf der für die Klimabewegung symbolisch wichtige Ort abgerissen werden, wenn RWE im Gegenzug früher als geplant aus der Kohle aussteigt. Die Grüne Jugend und Delegierte, die der Klimabewegung zuzurechnen sind, kämpfen nun um ein Moratorium und neue Verhandlungen mit RWE. Sie stellen Gutachten infrage, die belegen sollen, dass die Kohle dringend gebraucht werde. 

Hier könnte für die Grünen sogar ein noch größeres Konfliktpotenzial lauern als in der Frage des Reservebetriebs. Denn die Grünen können es sich eigentlich nicht leisten, die Klimabewegung dauerhaft zu enttäuschen. Und der Krisenpragmatismus, mit dem Habeck und die Parteispitze die Grünen bisher so erfolgreich über alle Zumutungen hinweg zusammengehalten haben, könnte bei diesem Thema an seine Grenzen geraten.