„Der Stuttgart-Komplex“: Die Stuttgarter Republik
Die Erinnerungen an das Stuttgart meiner Kindheit sind matt
und vergilbt – wie Dias und Super-8-Filme aus den 70er Jahren, denen ihre
orange-grelle Farbigkeit mit der Zeit abhandenkam. Überall diese Patina: die
holprigen Straßenbahnfahrten in die Innenstadt, wo der Mercedesstern auf einem
der Türme des Bahnhofs prangte, Leitstern eines eigenen Sonnensystems. Das
Neckarstadion, in dem Hansi Müller Richtung Cannstatter Kurve dribbelte und ich
auf der Schulter meines Vaters aufgeregt den VfB anfeuerte. Die Spaziergänge
auf dem Hauptfriedhof, an Sonntagen, wo man manchmal Gerhard Mayer-Vorfelder
samt Familie begegnete, dessen patenhafte Abgründigkeit zumindest mir erst viel
später ersichtlich wurde. Es gab den Ministerpräsidenten Hans Filbinger,
ehemaliger NS-Marinerichter, für den nicht Unrecht sein durfte, was früher
einmal rechtens war. Gegenüber der Kirche, in der wir zuweilen katholische
Gottesdienste besuchten, lebte die Witwe Hanns Martin Schleyers.
Jenem „BRD
Noir“, wie Philip Felsch und Frank Witzel die untergründige Düsternis der alten
Bundesrepublik charakterisierten, begegnete man im Stuttgart in diesen Jahren an jeder Ecke: Die Mischung aus pietistischer Biederkeit und schwäbischem
Selbstbewusstsein, CDU-Filz und konservativer Renitenz, Geschichtsamnesie und
Zukunftsoptimismus hatte durchaus etwas Unheimliches, wenn das Kind dieses
Unheimliche auch nicht benennen konnte. Der Ruf Stuttgarts, das immerhin wurde
irgendwann klar, war republikweit nicht der glänzendste. Kaum jemand, den ich
später in Studienjahren kennenlernte, wusste viel über die Stadt; garantiert
niemand aber mochte sie. Der VfB und sein Präsident Mayer-Vorfelder waren
indiskutabel. Die Kehrwoche ein Sujet fürs Comedy- und Erwin Teufel eines fürs
Kabarett-Programm. Filbinger, der schließlich doch über seine Vergangenheit
gestolperte Ministerpräsident, baute eine rechtskonservative Denkfabrik auf, in
der auch Rechtsextreme und Revanchisten höchst willkommen waren. Und wer
Beispiele für die Hässlichkeit und Beliebigkeit moderner Innenstädte suchte,
konnte mit Stuttgart einen Punkt machen.
Und nun soll man sich Stuttgart als Avantgarde denken? Die
schwäbische Metropole als Blaupause für die Gegenwart? Klingt das nicht ein
bisschen absurd? Auf so etwas kann eigentlich nur ein Feuilletonist kommen.
Wenn der Feuilletonist allerdings Florian Werner heißt und einen gewissen
Riecher für symptomatische Entwicklungen in unserer Gesellschaft hat, dann
sollte man dem wunderlichen Gedanken doch erst einmal Aufmerksamkeit schenken. Der Stuttgart-Komplex heißt das neue Buch des Publizisten und Zeitdiagnostikers,
der auch Autor von ZEIT ONLINE ist. Dabei bringt Werner schon dadurch eine gewisse Expertise mit, dass er in Stuttgart aufgewachsen ist. Die wird noch dadurch verstärkt, dass er der Stadt
irgendwann den Rücken gekehrt hat – und nun aus der Berliner Ferne einen umfassenden Blick
auf den Stuttgarter Kessel werfen kann. So wie „Athen“ der Inbegriff der
antiken Demokratie und „Manchester“ die Schlüsselmetropole des modernen
Industriekapitalismus gewesen seien, schreibt Werner, so sei „Stuttgart“ jene
Stadt, die emblematisch für die Bundesrepublik zu Beginn des dritten
Jahrtausends stehe.
Übertrieben? Florian Werner zaubert jedenfalls genügend
Argumente aus dem Hut, um seine steile These zu untermauern. Allein die
geografische Beschaffenheit Stuttgarts veranschauliche die Wertschöpfungskurve
im heutigen globalisierten Kapitalismus aufs Feinste: Die großen
Entwurfslaboratorien finden sich am Kesselrand, die Produktionsstätten von
Daimler und Co. am Neckar unten im Tal, die Garagen, in denen der Porsche
Cayenne später zu Hause ist, in den „gut gelüfteten Höhenlagen“. Auch die
soziale Schichtung der Republik lasse sich hier schön ablesen: Unten und oben
sind säuberlich getrennt, aber es gibt Übergänge.
Ganz weit zurück und in die Tiefe geht Werner, um die
besondere und zugleich beispielgebende Entwicklung Stuttgarts zu belegen: Der
Nesenbach, an dem die Stadt einstmals erbaut wurde, ist heute komplett
unsichtbar – er fließt als „dickstes Kanalrohr“ 15 Meter unter der
Erdoberfläche. Darin zeige sich ein sehr zweckorientierter und zerstörerischer
Umgang mit der Natur, wie er die letzten Jahrhunderte generell prägend war.
Dass inzwischen ein Teil des Baches wieder oberirdisch verläuft, ist ebenfalls
bezeichnend: Es handelt sich dabei um ein idyllisches Abbild, eine Täuschung,
ein Simulakrum – ein künstlicher Nesenbach, nachträglich eingerichtet, um
einerseits auf etwas Ursprüngliches zu verweisen, zugleich die eigentliche
Funktion des Baches aber zu verschleiern.
Ordnungsliebe und Irrationalismus
In vielerlei Hinsicht ist Stuttgart, so Werner, ein
Zukunftslabor: Wie gut oder wie schlecht diese dichtbesiedelte, flächenversiegelte
und für hitzige Wetterlagen anfällige Stadt mit dem unaufhaltsamen Klimawandel
umgehen wird – das könnte anderen Regionen Warnung oder Modell sein. Es brodelt
jedoch nicht nur klimatisch: Mehrere Protestbewegungen mit ungewöhnlichem
Charakter haben hier ihren Ausgang genommen. Der sogenannte Wutbürger, der sich
aus bürgerlichem Milieu rekrutierte, begehrte vor einem Jahrzehnt gegen
Stuttgart 21 auf; und die Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen hatten ihren
Ursprung im ordnungsliebenden Schwabenland. So unterschiedlich die Anliegen und
argumentativen Strategien, so ähnlich doch das Neue daran: Verschiedene, teils
unvereinbare Milieus vermischen sich auf explosive Weise, und ein Vorbehalt
gegen die politischen Entscheidungsträger wird selbst von Gruppen auf die
Straße getragen, die früher brav ihr Kreuz bei der CDU machten.
Dass die Grünen
in Baden-Württemberg die Rolle der Konservativen eingenommen haben und
staatstragend wurden, das hat viel mit Stuttgart 21 zu tun und ist ein weiteres
Indiz für die Vorreiterrolle des Ländles: Der ehemalige Linksaußen Winfried
Kretschmann mutierte zum beliebten Landesvater, der eine größere Nähe zu Markus
Söder von der CSU zu haben scheint als zu manchen Parteigenossen; und Stuttgart
war die erste Landeshauptstadt, die mit Fritz Kühn von einem grünen Oberbürgermeister geführt
wurde, wenn dieser auch mit wenig Charisma und Fortune ausgestattet war. Nicht
vergessen werden sollte, dass die Grünen ihre Gründungsstätte in
Baden-Württemberg hatten; wollen sie im Bund langfristig erfolgreich sein, so
müssen sie sich wohl oder übel am Stuttgarter Weg ein Beispiel nehmen.
Der aufmüpfige Geist, die teils sehr gewöhnungsbedürftige
Kombination aus Ordnungsliebe (siehe Kehrwoche) und Irrationalismus – auch
dafür hat Werner eine Erklärung. Nirgendwo ist die anthroposophische Bewegung
so stark wie an ihrem Geburtsort, und nirgendwo der Protestantismus so sehr
Pietismus wie hier. Wer die Polarisierung der Republik analysiert, die
zunehmende Kluft zwischen Geist und Unvernunft beklagt, der kann am Beispiel
der Schwabenmetropole einiges lernen. Natürlich lernt man hier auch, was wir
der Industrialisierung verdanken – im Guten wie im Schlechten: Von Anfang an
ging es in Stuttgart um Pferdestärken, vom „Stutengarten“ (der Name Stuttgart
leitet sich davon ab) bis zu den PS-Monstern von Daimler. Kein Wunder, dass in
kaum einer anderen Großstadt die Luftqualität schlechter ist. Und die Sorge vor
der Zukunft größer. Denn ein Umdenken in Sachen Automobilität wird unumgänglich
sein, will die Menschheit diesen Planeten noch ein Weilchen bewohnen. Stuttgart
dürfte hier ebenfalls als Versuchslabor dienen.
Man sieht: Florian Werners Eingangsthese ist gar nicht so
weit hergeholt. Jedenfalls hat er ein pointiertes, kluges, gewitztes, lesens-
und bedenkenswertes Buch über jenen oftmals als provinziell geschmähten Ort
geschrieben, „an dem sich die Zukunft dieses Landes zusammenbraut“. Vielleicht
leben wir tatsächlich längst in der „Stuttgarter Republik“, auch wenn man das in
Berlin noch nicht recht wahrhaben will.
Florian Werner: „Der Stuttgart-Komplex. Streifzüge durch
die deutsche Gegenwart“. Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 188 Seiten. 20 Euro.