Angriff aus Fernost: Wenn jener letzte Faden reißt

Ganz still ist es noch nicht in der Halle für die Endmontage bei Mayer & Cie. Mehrmals ist ein mechanisches Rattern zu hören. Auf Gestellen sind Hunderte von Spulen mit weißen Fäden aufgehängt. Viele Flächen in der Halle von Gebäude 9 sind aber leer. Zwei Mitarbeiter prüfen den Garnzulauf einer Rundstrickmaschine. Auf den grauen Pullis der Techniker ist das grüne Logo des schwäbischen Traditionsunternehmens zu sehen. Sie arbeiten an dem spinnenartigen Gestell der Maschine, das die vielen Fäden in der Mitte zusammenführt, bevor der Zylinder mit den Nadeln das Garn zu feinen Maschen verstrickt. Am Durchgang zur Hauptverwaltung steht eine Infotafel mit den Aufträgen für die nächsten Wochen, es ist eine Woche vor Heiligabend bis auf zwei Ausnahmen leer.

Im zweiten Stock sitzt Benjamin Mayer an einem kleinen Besprechungstisch. Der Urenkel des Unternehmensgründers muss sich in diesen Tagen mit den Folgen der Leere auf dem Auftragsboard auseinandersetzen. Nach einem dramatischen Umsatzeinbruch in den vergangenen zwei Jahren hat der Maschinenbauer zuerst Insolvenz angemeldet und Anfang Dezember bekannt gegeben, die Produktion von Rundstrickmaschinen spätestens Ende März einzustellen. 270 Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. „Der Wettbewerb mit chinesischen Unternehmen hat sich in den vergangenen drei Jahren enorm verschärft. Seit der Immobilienkrise in China fließen die Subventionen des Staates in die Indus­trie, die mit diesen Mitteln ihre Wettbewerbsfähigkeit rasant ausbaut“, sagt Mayer im Interview mit der F.A.Z. „Da können sich europäische Unternehmen optimieren, wie sie wollen, da kommen sie nicht ran.“

Preisangriff aus Fernost

Mayer führt das Unternehmen seines Urgroßvaters seit 2014 gemeinsam mit seinem Bruder und seinem Cousin. Und er hat alle Zahlen sofort präsentiert, die illustrieren, was er mit dem Angriff aus Fernost meint. Mayer & Cie. ist viele Jahre lang der Weltmarktführer bei Premium-Rundstrickmaschinen gewesen. Wenn im Jahr 30.000 Anlagen an Textilhersteller gegangen sind, waren davon 5000 Maschinen aus dem Premiumsegment, und von denen kamen zehn bis 15 Prozent aus Tailfingen, einem kleinen Teilort von Albstadt auf der Schwäbischen Alb, wo Mayer & Cie. seinen Sitz hat. Doch der Markt für die Premiumanlagen schrumpft seit 2021 – und in den unteren Segmenten diktieren die Wettbewerber aus China die Preise. „Wir haben seit 2022 mehr als die Hälfte unseres Umsatzes verloren, da brauchen wir mit Sparen gar nicht anfangen, das bekommt man nicht aufgefangen“, erläutert Mayer. „Mit einem Jahresumsatz von 50 Millionen kommen wir auf der Kostenseite nicht hin.“

Der Umsatz in Tailfingen geht zurück, weil sich der Wettbewerb in der Textilbranche verschärft und die Kunden von Mayer & Cie. die höheren Preise für die Premiumanlagen aus Schwaben nicht mehr zahlen können. Maschinen aus Tailfingen kosten zwischen 65.000 und 70.000 Euro, chinesische Konkurrenten bieten nach Angaben von Mayer dagegen Anlagen an, für die zwischen 16.000 und 20.000 Euro zu zahlen sind. „Weil die Rundstrickmaschine technologisch schon sehr ausgereift ist, ist es sehr schwierig, Technik und Innovationen so hochzuhalten, dass die Preisdifferenz zu rechtfertigen ist“, erklärt Mayer.

Für den Mayer-&-Cie.-Chef ist das Ende des Unternehmens, das sein Urgroßvater 1905 gemeinsam mit fünf Inhabern und vier Mitarbeitern von schwäbischen Mechanikerbetrieben gegründet hat, viel mehr als eine größere Delle in der sowieso unsteten Textilkonjunktur. „Das ist kein Strohfeuer, keine Krise wie 2009/10, sondern die deutsche Industrie hat ein strukturelles Problem“, sagt der Vierunddreißigjährige. „Natürlich würden geringere Strompreise und ein Abbau der Bürokratie den hier beheimateten Unternehmen helfen.“ Aber, und dieses „aber“ betont Mayer, auch solche Veränderungen werden „die riesigen Wettbewerbsnachteile nicht ausgleichen“. Genauso wenig wie das europäische Schutzzölle könnten, denn nur knapp zehn Prozent des Umsatzes erwirtschaftet Mayer & Cie. in Europa, die übrigen Erlöse kommen aus Lateinamerika mit rund zehn Prozent und aus Asien mit mehr als 80 Prozent. Und dort drängen die chinesischen Wettbewerber das schwäbische Familienunternehmen mit einer aggressiven Preispolitik aus dem Markt.

Von 110 auf 60 Millionen Euro Umsatz in zwei Jahren

Die Umsätze von Mayer & Cie. sind in den vergangenen Jahren sukzessive zurückgegangen – von 110 Millionen Euro im Jahr 2022 auf 60 Millionen im Jahr 2024. 2025 wird das Unternehmen nach Mayers Angaben nur noch 50 Millionen Euro erlösen und wie im Jahr zuvor tiefrote Zahlen schreiben. „Wir hatten die Hoffnung, wieder auf einen Umsatz von 70 oder 80 Millionen Euro zu kommen, doch der Trend geht eher in die andere Richtung. Der Umsatz wäre tendenziell noch weniger geworden“, sagt Mayer.

Ein Grund für den Absturz ist auch der Modetrend der „Fast Fashion“, der sich gerade zur „Ultra Fast Fashion“ beschleunigt, also Kleidung minderer Qualität zu sehr niedrigen Preisen. Chinesische Verkaufsplattformen wie Alibaba , Temu oder Shein bieten T-Shirts, Blusen und Hosen an, die darauf ausgelegt sind, dass Kunden die Kleidung wenige Male tragen und dann wegwerfen. Da die Plattformen nur als Vermittler fungieren und die Produkte bei Herstellern bestellen, wird der Druck an die Textilfabrikanten weitergegeben. Benjamin Mayer hat Anrufe von langjährigen Kunden aus Indien erhalten, die ihm gesagt haben, dass sie sich die teuren Maschinen von der schwäbischen Alb unter diesen Umständen nicht mehr leisten können. „Der Trend zu Fast Fashion befördert den Druck auf etablierte Maschinenhersteller, weil diese Art der Produktion und Vermarktung nur über große Volumina bei gleichzeitigem Absenken der Kosten funktioniert“, erklärt Mayer. „Und das bedeutet, dass die billigsten Nadeln, die billigsten Maschinen und die billigsten Garne benutzt werden.“

Mit seiner Einschätzung der wirtschaftlichen Aussichten steht Mayer nicht allein – Dutzende Investoren haben sich das Unternehmen und die Zahlen des Strickmaschinenherstellers in den vergangenen Monaten angeschaut, keiner hat sich entschlossen, den Maschinenhersteller zu übernehmen oder bei dem Familienunternehmen einzusteigen. „Im Ergebnis konnte trotz der intensiven Bemühungen im Rahmen der weltweiten Ausschreibung kein Investor für Mayer & Cie. gefunden werden“, sagt Insolvenzverwalter Martin Mucha. Die Gründe für die Schieflage seien vielfältig. Mucha nennt die weltweite Investitionszurückhaltung aufgrund des Handelskonfliktes zwischen den USA und China, die Inflation in der Türkei und die damit verbundenen Probleme der dortigen Textilhersteller, den Trend zu „Fast Fashion“ und „die staatlich subventionierten Hersteller aus China, die ihre Textilmaschinen zu günstigen Preisen auf dem Weltmarkt anbieten“.

Verzicht der Arbeitnehmer hat nicht gefruchtet

Ein Ergänzungstarifvertrag, den das Unternehmen vor gut einem Jahr mit der IG Metall ausgehandelt hat und der unter anderem den Verzicht auf Weihnachtsgeld 2024 und Sonderzahlungen 2025 umfasste und betriebsbedingte Kündigungen bis Ende März 2026 ausgeschlossen hat, hat nach Angaben des Insolvenzverwalters nichts an der aussichtslosen Lage geändert. „Das Entgegenkommen der Belegschaft reicht bei Weitem nicht aus, um das Unternehmen nachhaltig zu entlasten“, erklärt Mucha.

Auch die IG Metall erkennt an, dass der Markt und der Wettbewerb sich so entwickelt haben, dass es nicht allein um die Entgeltkosten geht. Trotzdem hat die Gewerkschaft die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. „Wir hoffen noch immer, dass wir die Arbeitsplätze erhalten können“, sagt Nicole Platzdasch, Erste Bevollmächtigte der IG Metall Albstadt. „Auch in dieser Phase einer Insolvenz sind noch Dynamiken möglich, denn die Kollegen mit ihrem Know-how sind immer noch in Arbeit – und diese Qualifikationen können für Erwerber hochgradig interessant sein.“

Dietrich Birk, Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau in Baden-Württemberg, nennt die Insolvenz von Mayer & Cie. einen herben Verlust. „Wenn ein traditionsreiches Unternehmen keine Fortführungsperspektive hat, ist das nicht nur für die betroffene Region, sondern für die gesamte Industrie ein Warnsignal“, erläutert Birk. Besserung erwartet er für 2026 nicht. Birk spricht von einem schwierigen Marktumfeld, gekennzeichnet durch hohe Überkapazitäten und getrübte Konsumentenstimmung. Nach Umsatzeinbußen 2024 und 2025 pro­gnostiziert Birks Verband für die nächste Zeit allenfalls eine Seitwärtsbewegung.

Auch der Konkurrenz geht es schlecht

Das Tailfinger Familienunternehmen steht mit diesen Problemen nicht allein da. Im Oktober hat das traditionsreiche Reutlinger Unternehmen Stoll , das auf den zweiten wichtigen Maschinentyp der Flachstrickmaschinen spezialisiert war, die Produktion eingestellt. Ein wichtiger deutscher Wettbewerber von Mayer & Cie., Terrot aus Chemnitz, wurde vom chinesischen Hersteller Santoni übernommen. Und nur acht Autominuten von der Mayer-&-Cie.-Zentrale entfernt kämpft ein weiterer Zulieferer für die Textilindustrie mit der schwierigen Lage der Branche. In diesen Tagen läuft ein Freiwilligenprogramm aus, mit dem Groz-Beckert , ein Hersteller von indus­triellen Maschinennadeln und Feinwerkzeugen mit Sitz in Ebingen, 250 Stellen abgebaut hat.

Die Textilindustrie gehörte vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu den wichtigsten Branchen im Südwesten. Vor allem im Neckarbecken rund um Stuttgart und auf der Schwäbischen Alb florierte die auf der Herstellung von Stoffen basierende Wirtschaft. Ausgelöst durch veränderte Konsumgewohnheiten und die zunehmende Globalisierung mussten sich die Unternehmen von Mitte der Sechzigerjahre an spezialisieren – auf den Textilmaschinenbau oder die Herstellung von Spezialtextilien. Die Autoindustrie benötigt Airbag-Gewebe und Sitzbezüge, die Medizintechnik Verbandsstoffe oder OP-Kleidungen und der Bau Geotextilien, Membranen und Isolationsmaterialien.

Die klassische Textilproduktion als Massenbekleidung verlagerte sich nach Asien, und nur wenige Markenhersteller wie Trigema oder die Unterwäsche-Spezialisten Mey und Schiesser , die alle eher hochpreisige Produkte anbieten, stellen ihre Kleidung noch in Werken in Deutschland oder Europa her. Louis Bezner, Chef des Münchner Strickwarenherstellers Maerz München , hat das Problem vor wenigen Wochen in der F.A.Z. so beschrieben: „Wir müssen eine Marke werden, um zu überleben“, sagt Bezner. „Nur so etablieren wir unsere Produkte im Premiumsegment, in dem ein Unternehmen die Preise erzielen kann, die die Qualität einer aufwendigen Produktion in Europa gegenfinanzieren.“

Eben noch ein Rekordauftragsbestand

In Tailfingen blickt Benjamin Mayer aus seinem Büro auf die Landstraße, die hinauf auf die Schwäbische Alb und zur Burg Hohenzollern, dem Stammsitz des Hauses Hohenzollern, führt. Sein Vater habe ihm schon beim Einstieg gesagt, dass er sich das genau überlegen solle, die Textilwirtschaft sei ein schwieriges Geschäft. „2022 hatten wir noch einen Rekordauftragsbestand, ich kann gar nicht glauben, dass ich jetzt diese Geschichte erzählen muss. Ich musste mir in den vergangenen eineinhalb Jahren anschauen, wie das Unternehmen meiner Familie langsam ausblutet“, sagt Benjamin Mayer.

Vater Rainer Mayer, der die Leitung des Unternehmens 1972 übernommen hatte, hatte noch zwei existenzielle Krisen gemeistert: den Einbruch nach der Ölkrise in den Siebzigerjahren und die Umsatzrückgänge nach der Finanzkrise 2009, deretwegen der Vater sogar seinen Ruhestand noch einmal verschob, um das Familienunternehmen durch die Planinsolvenz zu führen. Der Angriff aus Fernost 15 Jahre später war dann zu viel, aller Voraussicht nach geht die mehr als 100 Jahre währende Geschichte des Unternehmens in wenigen Wochen zu Ende, das sich nicht mit dem schnöden Namen „& Co.“ abgeben wollte, sondern lieber die elegante französische Variante „& Cie.“ wählte.

Benjamin Mayer hält noch einmal inne und erinnert ein weiteres Mal an das Ende des Reutlinger Herstellers Stoll. „Es waren die gleichen Gründe, das ist so traurig“, sagt Mayer. „Vor zwei Jahren waren wir noch gemeinsam auf einer Messe. Unsere Verkäufer kannten sich, sie waren gut befreundet.“ Dann geht Mayer wieder in sein Büro. Er muss bis Ende März noch die Maschinen, die Ausstattung und die vielen Hundert Garnrollen aus dem Lager seines Familienunternehmens verkaufen.