Syrien helfen, ja – zurückkehren, nein
Knapp eine Million Syrer lebt mittlerweile in Deutschland. Viele helfen beim Wiederaufbau ihrer Heimat – sie zögern aber, dauerhaft in ihr Heimatland zurückzukehren. Hier erzählen zwei Mediziner von ihren Beweggründen.
Als Syriens Machthaber Baschar al-Assad im Dezember 2024 nach Moskau floh, war Firas Alassil im fernen Dortmund elektrisiert. „Ich sah für mein Land endlich wieder eine Perspektive“, erzählt der Orthopäde, der 2005 für seine Facharztausbildung nach Deutschland kam. Sechs Jahre später brach der syrische Bürgerkrieg aus. Eine Reise in seine Heimat schien ihm aussichtslos, viel zu gefährlich.
Der Mediziner ließ sich im Ruhrgebiet nieder, eröffnete 2020 in Dortmund eine Praxis. Seitdem flickt er Kreuzbänder und behandelt ausgekugelte Schultern. Er wurde heimisch, erhielt den deutschen Pass, seine Kinder wuchsen hier auf. Mehr als zwölf Jahre lang verfolgte der 52-Jährige die Nachrichten aus seiner zerrütteten Heimat nur aus der Ferne. Dann zerbrach das Regime – und nun ist alles anders.
WELT erreicht Alassil telefonisch am Flughafen im türkischen Izmir. Gemeinsam mit seiner Frau, einer Deutschen mit türkischer Einwanderungsgeschichte, und seinen drei Kindern ist er gerade auf der Reise nach Damaskus. Der Nachwuchs soll seine familiären Wurzeln kennenlernen, er möchte auch syrische Pässe für die Kinder beantragen.
Wenn Syrer in diesem Jahr in der öffentlichen Debatte in Deutschland eine Rolle spielten, ging es meist um eine härtere Migrationspolitik. Bund und Länder bereiten Abschiebeflüge von Straftätern nach Damaskus vor, das Bundesinnenministerium spricht dafür sogar mit der Interimsregierung von Präsident Ahmed al-Scharaa, dem langjährigen Anführer der islamistischen Rebellengruppe Hai’at Tahrir al-Sham (HTS). Am Dienstag wurde das erste Mal seit Ausbruchs des Bürgerkriegs 2011 ein syrischer Straftäter in sein Heimatland abgeschoben. Seit Ende September prüft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Auftrag des Innenministeriums Tausende Schutztitel bei Syrern in Deutschland. Bisher kam es zu Widerrufen im mittleren dreistelligen Bereich.
„Wer soll Syrien aufbauen, wenn nicht die Syrer“ – so formulierte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) die grundsätzliche Marschroute der Bundesregierung. Doch sehen Syrer in Deutschland das genauso?
Rund 950.000 Menschen mit syrischer Staatsbürgerschaft leben heute in Deutschland – und ihre Bereitschaft scheint gering, in die kriegsversehrte Heimat zurückzukehren: Bis Ende Oktober sind nur knapp 3000 Menschen mit finanzieller Unterstützung freiwillig ausgereist. Viele scheinen abzuwarten, ob sich die Sicherheitslage im Land stabilisiert. Dazu kommt: Wer in seinen Heimatort reist, etwa um zu klären, ob das Elternhaus noch steht, riskiert seinen Aufenthalt in Deutschland.
Und so sind es am ehesten die Deutsch-Syrer, die in ihr Heimatland reisen und anpacken. Sie können jederzeit wieder zurückkehren, ohne ihren Status zu gefährden. Rund 250.000 Syrer erhielten in den vergangenen Jahren den deutschen Pass, weitere dürften in den kommenden Jahren folgen.
Im Februar dieses Jahres reiste Deutsch-Syrer Alassil erstmals wieder in seinen Heimatort Abu Kamal im Osten an der Grenze zum Irak. Lange dominierte die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ die Region, die Gegend „sei immer noch sehr unsicher“, sagt Alassil. Er sei nicht mit leeren Händen hingereist, 80 Betten für das örtliche Krankenhaus habe aus Spendengeldern organisiert: Der Mediziner ist Mitglied des Verbands Deutsch-Syrischer Hilfsvereine, die wie andere Einrichtungen Klinikpartnerschaften mit syrischen Institutionen eingegangen sind, um dem Gesundheitssektor des Landes auf die Beine zu helfen. Gefördert werden diese Partnerschaften vom deutschen Entwicklungsministerium.
Sein erster Eindruck: „Das Gesundheitssystem liegt am Boden, es herrschen mittelalterliche Zustände.“ Den Menschen fehle das Nötigste. „Besonders Operationen für Herzpatienten werden gebraucht, etwa Katheter.“ Ein Stockwerk des Krankenhauses hätten sie bisher ausstatten können, acht Ärzte arbeiteten dort. Sie würden aus Spenden bezahlt. Reguläre Löhne zahlt die Interimsregierung bisher nicht. Alassil reiste im Tross des aktuellen syrischen Gesundheitsministers mit, beide kennen sich aus Deutschland. Der Minister, Musaab Alali, arbeitete jahrelang als Neurochirurg in Hessen, besitzt den deutschen Pass und gehört nun dem syrischen Kabinett an.
Die Lage in seinem Geburtsort habe sich etwas stabilisiert, sagt der Dortmunder Orthopäde Alassil über seinen ersten Besuch. Nur nachts sei er lieber zu Hause geblieben, die Lage sei zu gefährlich gewesen.
Dies lässt sich über viele Gegenden im Land sagen. Das fragile Post-Bürgerkriegs-Syrien gleiche weiter einem „Pulverfass“, zu diesem Ergebnis kam ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages von Ende August. Immer wieder gab es demnach in diesem Jahr Massaker an Minderheiten wie Alawiten, Drusen und Kurden. „Eine Involvierung von Soldaten der derzeitigen syrischen Armee, von Kämpfern mit der Regierung affiliierter Milizen sowie der syrischen Sicherheitskräfte in Massaker und Menschenrechtsverletzungen ist regelmäßig gegeben“, heißt es im Gutachten.
„Eine Katastrophe, was in Syrien passiert“
Auch wegen solcher Berichte ist es für Mohamed Said ausgeschlossen, nach Syrien zu reisen. „Zurzeit ist das Land ein Gottesstaat. Es gibt keine Gesetzlichkeit“, sagt der Kinderarzt aus Hamburg-Blankenese, der der religiösen Minderheit der Drusen angehört. „Moderate, kritisch denkende Menschen können nicht zurück.“ Der 76-Jährige spielt damit auf die radikalen Wurzeln der Interimsregierung an. Der syrische Präsident Ahmed al-Scharaa ist der frühere Anführer der HTS, die ursprünglich der mit al-Qaida verbundenen Terrororganisation al-Nusra entstammt. Heute hat der Interimspräsident seinen Kampfnamen „Abu Mohammed al-Jolani“ abgelegt und gibt sich als geläuterter Staatsmann.
Said lebt schon seit 1967 in Deutschland, in den Hamburger Elbvororten ist der längst eingebürgerte Mediziner eine Institution. Während der Regentschaft von Assad sei er zweimal pro Jahr ins Land – damals ein „Spitzel- und Überwachungsstaat“ – gereist, „versorgte und behandelte arme Menschen“.
1949 wurde Said in Suweida geboren, einer 60.000-Einwohner-Stadt etwa 100 Kilometer südlich der Hauptstadt Damaskus – und einer der Hochburgen der Drusen. Sunnitisch-beduinische Stämme massakrierten hier im vergangenen Sommer Tausende Menschen, teilweise unterstützt von der syrischen Armee und regierungsnahen Milizen. Die oft islamistischen Kämpfer plünderten und zerstörten in der Provinz viele Dörfer.
Der Hamburger Kinderarzt hat viel Geld in Immobilien in seiner Heimatregion investiert – diese Investition sei nun unwiederbringlich verloren, sagt Said. „Es ist eine Katastrophe, was in Syrien passiert.“
Der Dortmunder Orthopäde Alassil gehört keiner Minderheit an, er ist sunnitischer Muslim – wie viele Mitglieder der syrischen Interimsregierung. Er sieht die Lage des Landes etwas anders: „Es stimmt, die Situation ist weiter kompliziert. Die verschiedenen Ethnien haben sich die letzten 50 Jahre gegenseitig bekriegt. Es braucht Zeit, um das Gegenüber zu verstehen.“ Er wünsche sich einen demokratischen syrischen Staat, ein einheitliches Gebilde, und wolle daran mitarbeiten.
Er kenne Menschen, die bereits aus Deutschland nach Syrien zurückgekehrt seien. Diese hätten sich trotz aller Schwierigkeiten nach ihrem früheren Leben gesehnt – nach der syrischen Sonne, dem Obst und Gemüse, bekannten Gesichtern. Ist er selbst bereit, in sein Heimatland zurückzukehren?
„Kurzfristig kann ich mir nicht vorstellen, wieder in Syrien zu leben. Das würde ich meiner Familie nicht zumuten“, sagt Firas Alassil. Er wird abwarten – und neu nachdenken, wenn er als Arzt bessere Bedingungen vorfindet und sich die Sicherheitslage deutlich verbessert hat.
Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik.
Source: welt.de