Reparationsdarlehen: Wie Merz in Brüssel ausgetrickst wurde

Um drei Uhr in der Nacht war der Showdown im Europäischen Rat vorüber. Fünf Stunden lang hatten die Staats- und Regierungschefs um die künftige Finanzierung der Ukraine gerungen. Die bekam am Ende 90 Milliarden Euro für die nächsten zwei Jahre zugesagt – wie es ihr vorher versprochen worden war. Doch der Weg, den die EU nun dafür gewählt hat, ist kein Reparationsdarlehen, für das die in Europa gesperrten Vermögenswerte der russischen Zentralbank eingesetzt werden sollten. Stattdessen wird die EU neue Schulden machen, indem sie den verbleibenden Spielraum in ihrem Haushalt nutzt, um sich an den Märkten Geld zu leihen. Das war das Gegenteil von dem, was Bundeskanzler Friedrich Merz und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angestrebt hatten.
Man musste nur in die Gesichter blicken, um zu erkennen, wer der große Verlierer dieser Nacht war. Friedrich Merz sah müde und angeschlagen aus, als er im deutschen Presseraum vor die Kameras trat, die Wangen gerötet, die Stirn in Falten, den Blick auf seine Notizen fixiert. Merz musste tun, was Politikern in solchen Situationen noch bleibt: seine Niederlage schönreden. Ein „großer Erfolg“ sei der Gipfel, sagte er mit gequälter Miene, Europa habe eine „Demonstration seiner Souveränität abgeliefert“. Der Vorteil der vereinbarten Lösung sei, „dass wir jetzt auf bewährte europäische Instrumente zurückgreifen und der Ukraine damit ohne jede weitere Verzögerung die Hilfen leisten können“. Außerdem habe man sich nur „auf eine andere Reihenfolge geeinigt“: Die EU nehme am Kapitalmarkt Geld auf, aber das werde dann „besichert durch die russischen Vermögenswerte und auch über die Vermögenswerte zurückbezahlt“.
Merz hat seine eigene Lesart
Mit dieser Sicht der Dinge stand Merz freilich allein auf weiter Flur. Denn eine solche Entscheidung war keineswegs getroffen worden. In den maßgeblichen Schlussfolgerungen des Europäischen Rats hieß es lediglich, die Union behalte „sich das Recht vor“, die gesperrten Vermögenswerte „für die Rückzahlung des Darlehens zu verwenden“. Also eine Option, die eines weiteren Beschlusses bedarf. Von einer Besicherung des Darlehens aus den Vermögenswerten konnte ebenso wenig die Rede sein, sie erfolgt vielmehr aus dem Haushaltsspielraum. Die EU muss dafür auch Zinsen zahlen, nicht aus russischen Vermögen, sondern aus ihrer eigenen Kasse.
Die Regierungschefs beauftragten den Rat und das Parlament „die Arbeit an den technischen und rechtlichen Aspekten der Instrumente zur Einrichtung eines Reparationsdarlehens auf der Grundlage der mit den immobilisierten russischen Vermögenswerten verbundenen Barbestände fortzusetzen“. Wohin das führt, ist ungewiss. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag war diese Option, die Merz zuvor die einzige genannt hatte, gescheitert. Oder wie es der Gewinner des Treffens, der belgische Ministerpräsident Bart De Wever, formulierte: Sie war „wie ein Schiff gesunken“, weil sie „so kompliziert, so riskant, so gefährlich“ war.
Der Flame, 15 Jahre jünger als Merz, sah noch frisch aus, als er sich vor den internationalen Medien äußerte. In seinem Land sei man es ja gewohnt, die ganze Nacht durchzuverhandeln, scherzte er. De Wever hatte alles bekommen, was er wollte, und musste gar nicht mehr auftrumpfen. „Europa hat gewonnen und die finanzielle Stabilität hat gewonnen“, sagte De Wever. Er selbst habe dazu bloß „einen Beitrag“ geleistet. Allerdings den entscheidenden.
Als der Europäische Rat am Donnerstagmorgen begonnen hatte, sah es noch so aus, als befinde sich De Wever in der schwächeren Position. Für gemeinsame Schulden brauchte es einen einstimmigen Beschluss, den hatte bis dahin jedoch Ungarn blockiert. In seinem eigenen Parlament sprach der belgische Regierungschef von einer „Option B“, auf die andere Länder zurückfallen würden, wenn Option A – das Reparationsdarlehen – sich als zu schwierig erweise. Wie die aussehen würde, sagte er nicht, hob aber hervor, dass man unbedingt eine Lösung für die Ukraine finden müsse.
De Wever machte einen cleveren Schachzug
Den Deutschen rund um Merz erschien es so, als steige der Belgier damit vom Baum herunter und öffne sich nun für ein Reparationsdarlehen. Tatsächlich verhandelten de Wevers Fachleute dann den gesamten Tag mit der Kommission am Rande des Rates über diese Lösung, auch ein deutscher Spitzenbeamter saß mit am Tisch. Doch am Ende, abends um Viertel nach acht, stand ein zwei Seiten langer, hochkomplexer Text mit 13 Unterpunkten in einem Finanzsprech, den kaum noch jemand verstehen konnte. Nur eine Passage fiel sogar Laien direkt auf: Belgien bestand weiter auf „unbegrenzte Garantien“ der anderen Staaten, falls Russland sein Geld zurückbekommen müsse. Aber wer könnte schon unbegrenzte Garantien geben? Als sich die Regierungschefs über das eng beschriebene Dokument beugten, wurde nicht nur jenen unwohl, die schon vorher skeptisch waren. Schnell wurde klar: Dieser Vorschlag fiel durch.
Für De Wever kann das keine Überraschung gewesen sein. Nachdem Belgien, Italien, Bulgarien und Malta ihre Skepsis in einer gemeinsamen Erklärung offengelegt hatten, fand er in Telefonaten heraus, dass es weitere Zweifler gab. „Wenn man seinen Job beherrscht und diese Dinge vorbereitet und vorher mit Leuten redet“, erläuterte er nächtens, „dann wird so ein Treffen berechenbar“. Vor allem mit einem hatte der Belgier geredet: mit Viktor Orbán. Beide schmiedeten im Verborgenen einen Deal. Der ungarische Regierungschef würde sein Veto gegen gemeinsame Schulden zurückziehen, wenn er im Gegenzug vom Darlehen an die Ukraine ausgenommen würde. Diesem Abkommen schlossen sich dann auch die beiden anderen Gegner einer weiteren Unterstützung der Ukraine an, Robert Fico aus der Slowakei und Andrej Babiš aus der Tschechischen Republik.
Und so wurde plötzlich möglich, was vorher unmöglich erschien: Alle 27 Mitgliedstaaten erklärten sich bereit, die geltenden Haushaltsregeln im nötigen Konsens so zu ändern, dass die EU-Kommission Geld aufnehmen kann, um es an ein Drittland wie die Ukraine weiterzugeben. Aber Budapest, Bratislava und Prag gehen damit nicht ins Obligo. Sollte das Geld eines Tages zurückgezahlt werden müssen, ohne russische Vermögen dafür einzusetzen, müssten nationale Haushalte dafür geradestehen. Die Rechnung bliebe jedoch an 24 Staaten hängen, nicht an 27.
Italien und andere können damit einstweilen gut leben, weil die EU-Schulden nicht auf ihre nationale Schuldenlast angerechnet werden. Und weil sie keine unpopulären Garantien in ihren Parlamenten durchfechten müssen. Der „gesunde Menschenverstand“ habe sich durchgesetzt, befand Giorgia Meloni, die italienische Ministerpräsidentin. Auch der französische Präsident, der sich im Hintergrund gehalten hatte, wirkte überaus zufrieden. „Zum ersten Mal akzeptieren wir, gemeinsam Geld aufzunehmen, um es der Ukraine zu leihen“, sagte Emmanuel Macron. Das sei „ein wichtiger Fortschritt“. Das Reizwort „Eurobonds“ nahm er nicht in den Mund, aber man konnte es mitdenken. Ausdrücklich wies er darauf hin, dass es für ein Reparationsdarlehen „keinen ordnungsgemäßen und formalen Zeitplan gibt“ – anders als Merz es suggeriert hatte.
Der Belgier spricht von Vernunft
Der belgische Regierungschef hatte dazu noch etwas beizutragen. Er verstehe ja, sagte De Wever, dass Länder, die nah an Russland lägen, es „emotional befriedigend“ gefunden hätten, auf „Putins Geld“ zuzugreifen. „Aber hier geht es nicht um Emotionen. Es geht um eine vernünftige Lösung. Und die Vernunft hat sich durchgesetzt.“ War das auch eine Ohrfeige für den deutschen Kanzler, über dessen Vorpreschen zu einem Reparationsdarlehen sich De Wever so bitter beklagt hatte? Sollte es heißen, dass sich auch Merz von Emotionen statt von Vernunft habe leiten lassen?
Für Kiew ist das Ergebnis nicht das schlechteste. Mit einem Reparationsdarlehen hätte das Land Aussicht auf bis zu 165 Milliarden Euro in den nächsten fünf Jahren gehabt. Jetzt sind „nur“ 90 Milliarden Euro für zwei Jahre sicher. Das sollte aber reichen, um Kriegskosten wie auch Gehälter und Renten tragen zu können – sofern die internationalen Partner weitere 45 Milliarden Euro aufbringen, um die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) identifizierten Lücken im Staatshaushalt zu stopfen. Das ist nicht ganz sicher, doch dürfte die EU-Zusage erst einmal reichen, um den IWF und die Finanzmärkte zu besänftigen. Auf jeden Fall bekommt Kiew das Geld zinslos und muss es nur zurückzahlen, wenn es von Moskau mindestens in gleicher Höhe für Kriegsschäden entschädigt wird. Das ist extrem unwahrscheinlich.
Die Hoffnung der Europäer ist, dass die Position der Ukraine in den Friedensverhandlungen nun gestärkt wird. Sie sei einstweilen finanziert, heißt es, während der russische Präsident in einem halben Jahr, spätestens aber in einem Jahr in akute Probleme kommen werde. Wladimir Putin müsse dann Renten und Gehälter kürzen und könne die Familien gefallener Soldaten nicht mehr so üppig entschädigen wie heute. Die Zustimmung zum Krieg und zu Putin könne dann sinken – das müsse er einrechnen, wenn er jetzt über einen Frieden verhandelt. Und Konzessionen machen. Am Freitag war davon freilich noch nichts zu spüren. Für einen Frieden in der Ukraine bleibe es bei allen Prinzipien, die er aufgestellt habe, sagte der russische Präsident in seiner Jahrespressekonferenz.
Source: faz.net