„Der Fall Adams“: Ein wirklicher Autor entdeckt zusammensetzen wahren

Das Publikum glaubt, es wüsste seit 1982, was ein wirklicher Schriftsteller einem erfundenen Schriftsteller als dessen Aufzeichnung vom 28. Mai 1950 in ein Buch geschrieben hat, um das Wirkliche im Erfundenen als Wahrheit freizustellen. Da steht: „Im immer dunkleren Spätmorgen –: die Steine zuletzt wie ergraut unter den hinschleichenden Augen­blicken – unter den trüb vom Gewölbe niederglimmenden Lampen –: ich stand weitab, auf der Seite unter dem Reiter, und zählte nur noch mechanisch das Scheppern der Glöckchen, das aus dem fernen Gemurr herüberdrang:“.

In einer Fassung, die das Publikum jetzt erst kennenlernen darf, fängt der Tag anders an: „(– im aufgeblaßten Morgen – das Geheimste von sich selbst gehen zu sehen – ich“, das alles in kleiner Schrift, dann wird sie größer und kursiv: „wartete im kalt dämmernden Steingewand – bis es zu läuten begann: dumpf schwankend über mir – und rauh beschließend: Menge – drängte eng herein:“. Liest man die beiden Bücher mutwillig durcheinander (was hier mehr aufschließt als ein braves Nach­einanderlesen), dann erkennt man, dass der wirkliche Schriftsteller sich ei­nen Fluch aufgeladen hat, als er sein Romanprojekt „Variationen“ taufte.

Jetzt haben wir, der Fluch will das, zwei Bücher und viele Vorarbeiten, Ne­benwerke, deshalb nicht das eine Buch „Variationen“. Eine frühe Version hieß „Der Fall Adam“; dann bekam der erfundene Schriftsteller den Namen „Michael Adams“, so fiel ein suggerierter Genitiv ins Spiel: „Der Fall Adams“. Dieser erfundene Schriftsteller und Philosoph, Emigrant während Hitlers Herrschaft, dann nach Deutschland zurückgekehrt, fällt in die Paranoia wie der erste Mensch in die Sünde. Der 1982 publizierte Roman sollte ein „erster Teil“ von etwas sein und hieß „Herzgewächse oder der Fall Adams“. Er hatte weniger Kapitel als ein zuvor aus­probiertes Ganzes und trug im Titel jetzt musikalische (und andere) Anspielungen, denen der Gattungsuntertitel „Frag­mentarische Biographik in unzufälligen Makulaturblättern“ weitere Anschlüsse hinzufügte.

Ein langer Abschied von der Konzeption

Der Preis für solche Anreicherungen war, so zeigt der Vergleich mit der jetzt veröffentlichten älteren Variation, eine seltsame Reduktion ursprünglicher Schwingungsfülle. „Der Fall Adams“ zum Beispiel sagt auf der ersten Seite noch: „und ist zuletzt die Theorie richtig, daß unter solchem Schallfall alles zum Schweigen kommt – so ist die ­äußerste Schwierigkeit zurhand, ihm etwas voraus zu haben“. In „Herzgewächse“ liest sich’s enger: „und ist zuletzt die Theorie richtig, dass unter solchem Schallfall alles zum Schweigen komme, so wäre die äußerste Schwierigkeit gesetzt, ihm etwas voraus zu haben“. Der Konjunktiv wirkt blasser als der Indi­kativ, und „gesetzt“ statt „zur­hand“ klingt vorsichtig-konventioneller als der dunkle Schmuck der ersten Wortwahl.

Hans Wollschläger: „Der Fall Adams“. Roman.
Hans Wollschläger: „Der Fall Adams“. Roman.Verlag

Die meisten Menschen leben nicht so lange, wie „Der Fall Adams“ bis zum endlichen Erscheinen gebraucht hat. Seine früheste Spur in der Literatur­geschichte ist die Antwort des Verfassers Hans Wollschläger auf einen Blankoscheck seines Lehrers Arno Schmidt: Weil der Ältere dem Jüngeren angeboten hatte, sich für dessen literarische Arbeiten beim eigenen Verleger zu verwenden, obwohl er nicht nur keines dieser Werke gelesen hatte, sondern nicht einmal wusste, ob es welche gab, wiegelte Wollschläger ab: Nein, fertig sei noch nichts.

Fertig wurde es dann eigentlich nie, sondern ein langer Abschied von der Konzeption, persönliches Echo des universellen „Abschieds von der Huma­nität“, den Wollschläger seinen Michael Adams nehmen lässt. Man denkt bei dem, was Adams geschrieben haben soll, vielleicht an „Die Antiquiertheit des Menschen“ von Günther Anders, an die Versuche Jean Amérys, den NS-Zivilisationsbruch irgendwie zu fassen, auch an Max Horkheimers lange Wanderschaft von Marx zu Schopenhauer. Ist das erzählende Variationenprojekt damit eine ästhetische Reaktion auf historisches Grauen, mit psychologischen Mitteln (als Mimesis „para­noischen Zerfalls“ nämlich) in Sprache verwirklicht?

Der deutsche Horror hat ihm die Formen kaputtgemacht

Vor die „Herzgewächse“ hat Wollschläger seine Abwandlung der platonischen Losung „Niemand trete ein ­ohne Kenntnis der Geometrie“ gesetzt; die Stelle der Geometrie weist er dabei der Psychologie zu. Meinte er Sigmund Freuds Lehren, auf die Schmidt so viel gab? Mit „Der Fall Adams“ wird das Gegenteil erkennbar, das sich bei Lektüre der „Herzgewächse“ bereits abzuzeichnen begann. Freud führt bewusste Not bekanntlich auf das Unbewusste zurück (der berühmteste Dissident seiner Schule, C. G. Jung, verallgemeinert und vernebelt das dann rückwärts ins Vormoderne und Mythische), woraus für die Psychosen (zum Beispiel die Paranoia des armen Adams) der Befund folgt, da würden Verstand und Vernunft von unverständigen und unvernünftigen Gemütsdynamiken in ­de­ren Abgründe hinabgestoßen.

Adams erlebt das jedoch umgekehrt: Die sozialhistorische Katastrophe hat ihm nicht zuerst das Empfinden zerstört, dessen Entzündungen dann etwa auch das Bewusstsein zersetzen können. Der deutsche Horror hat ihm vielmehr zuerst – noch bevor er das erste Wort schreibt, noch bevor Wollschläger es ihn schreiben lässt – die Formen verstört und kaputtgemacht, in denen er schreibt und sich die Welt komponiert. An deren Verlust geht das Herz kaputt. Hierin bilden, das weiß man jetzt, der erfundene und der wirkliche Schriftsteller zusammen einen wahren.

Geholfen hat dem wirklichen bei dieser Bildung auf seine Weise Schmidt, dessen größte Befürchtung war, Wollschläger könne aufgrund von Alters- und Erlebensdifferenzen zu Adams dessen Entwurf womöglich nicht gerecht werden (in Schmidts Theorien spielen solche beherzt naturalistischen Über­legungen eine große, in seiner Praxis eine vielfältig ge­brochene und mehrdeutige Rolle). Der Erfahrene riet dem Anfänger daher zu Beobachtungen in der Realität. Die stellte der deshalb wirklich an, unter anderem bei einem viel Älteren, den er im Arbeitsalltag kennengelernt hatte; einem ehema­ligen Gefangenen im KZ Dachau, von seiner Frau aufgegeben, auch sonst von der Geschichte hart angefasst. Der erlitt „einen totalen Nervenzusammenbruch“, schreibt Wollschläger an Schmidt, und zwar „nicht unverständlicherweise“, in Klammern.

Das klingt erschreckend kalt. Aber Wollschläger konnte „Schicksal“, was immer das sei, damals nicht anders sehen als mit den Augen eines Künstlers, der Material für die Gestaltung des ­individualisierten Welt-Elends sucht. „Der Scheiternshaufen“, der, mit einem Wort aus dem Variationenprojekt, dabei herauskam, variiert nun für immer ein Thema, dessen Grundtonart für ­al­le, die Deutsch lesen und schreiben können, fortleidend unerträglich geblieben ist – und eben deshalb bewusst erinnert zu werden verdient.

Hans Wollschläger: „Der Fall Adams“. Roman. Hrsg. von Thomas Körber und Nico Prelog. Wallstein Verlag, Göttingen 2025. 812 S., geb., 48,– €.

Source: faz.net