Gefängnisbuch von Nicolas Sarkozy: Mein liebes Tagebuch
Ende September wurde der ehemalige Präsident Frankreichs in
erster Instanz zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen
an, dass zwei Mitarbeiter des damaligen französischen Innenministers Sarkozy im
Auftrag ihres Chefs mit dem libyschen Geheimdienst Verhandlungen geführt haben,
um dessen Präsidentschaftskampagne 2007 zu finanzieren.
Der lange Rest dieser
Geschichte dümpelt mangels stichhaltiger Beweise seit Jahren im Konjunktiv
herum. Viele Millionen sollen in großen Geldkoffern nach Paris verbracht und
dort in mannshohen Tresoren in einer Bank gebunkert worden sein. Ein französischer
Ex-Minister soll sich von dem Geld eine teure Pariser Eigentumswohnung gekauft
haben. Beweisstücke wurden erst für echt, dann wieder für unecht befunden. Der
märchenhafte Staatsempfang des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi und seiner acht
Kinder im Jahr 2007 inklusive einwöchigen Glamour-Campings im Beduinenzelt im
Zentrum der französischen Hauptstadt (Ein Hauch von Orient in Paris titelten
die Zeitungen damals) soll Teil dieses unerhörten Staatskomplotts gewesen sein.
Die Verfilmung des Thrillers steht noch aus. Der Haftantritt musste sofort
erfolgen. Das Berufungsverfahren wurde nicht abgewartet.
Frankreich
schickte seinen ehemaligen Präsidenten tatsächlich hinter Gitter. Begleitet von
seiner dritten Ehefrau, der Chansonsängerin Carla Bruni, und seinen vier Kindern, machte Nicolas Sarkozy sich an einem sonnigen Oktobermorgen auf den Weg
in die Pariser Haftanstalt La Santé. Im Gepäck zwei Bücher: die Biografie von
Jesus Christus von Jean-Christian Petitfils und
den Roman Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas. Aus Sicht des
Gefangenen eine gute Wahl: Beide Bücher erzählen vom Leben unschuldig
verurteilter Märtyrer.
20 Tage
saß Nicolas Sarkozy in einer Einzelzelle im Hochsicherheitstrakt des
Gefängnisses, bewacht von Sicherheitskräften und isoliert von den anderen
Gefangenen. Vorzüge hat der hohe Gefangene in La Santé nicht genossen. Zelle 11 maß zwölf Quadratmeter, enthielt eine unbequeme Pritsche, einen festgeschraubten
kleinen Holztisch, einen Stuhl, eine Dusche, eine Kochplatte, einen Fernseher,
einen Kühlschrank. Die Mahlzeiten waren ungenießbar. Die Fenster vergittert und
mit blickdichten Plastikplanen verhängt.
Das alles
erfährt man im Tagebuch eines Gefangenen, das der Häftling Nummer 320535 in seiner kargen Unterkunft in den drei
Wochen seiner Haft mit der Hand verfasst hat. Eine Weltpremiere: das Journal
einer 20-tägigen Höllenfahrt durch die Verliese Frankreichs aus der Feder
eines seiner ehemaligen Präsidenten. Elf Druckseiten pro Tag. Erschienen ist das
ungewöhnliche Werk sofort nach dessen Freilassung im Verlag Fayard. Das ist ein Pariser Traditionsverlag, der in
die Schlagzeilen gekommen ist, seitdem er nach der Übernahme durch den
französischen Pressemogul Vincent Bolloré vermehrt Werke rechtspopulistischer
Politiker wie Éric Zemmour oder Jordan Bardella verlegt und darüber einige
renommierte Autoren verloren hat. Sarkozy ist mit Vincent Bolloré seit
Jahrzehnten befreundet. Für die aus seiner Sicht erfreuliche Prozessberichterstattung
im Medienimperium Bollorés bedankt sich der Häftling im Gefängnistagebuch sehr
herzlich bei dessen Angestellten.
Seinen
Gefängnisaufenthalt in La Santé begreift Sarkozy als spirituelle Prüfung. Sein
selbstauferlegtes Programm ist rigide, der Tag genau geregelt. Schreiben,
Lesen, eine Stunde Sport im Fitnessraum der Anstalt. Am Nachmittag kurze Besuche
von Carla und den Kindern im fensterlosen Sprechzimmer, abends ein Schwätzchen
mit dem Gefängnisdirektor in der Zelle, danach ein bisschen Champions League im
Fernsehen, sonntags Abendmahl mit dem Gefängnisseelsorger, der die Hostien in
der Aktentasche mit sich führt.
Er sei das Opfer von „Fälschern und Verschwörern“
Es herrscht ein reges Kommen und Gehen in Zelle
11. Mal kommen die Anwälte, mal der Justizminister, dann eine Gefängnisärztin. Der amerikanische Botschafter und die Anstaltsphysiotherapeutin werden nicht
vorgelassen. Zwei Abgeordnete von La France insoumise versuchen, einen
Fotografen von Le Monde einzuschleusen, was den Gefangenen in Rage bringt. Die Außenkontakte
werden kontrolliert. Das Handy muss zu Hause bleiben. Ein Wandtelefon
ermöglicht Anrufe an zuvor registrierte Nummern. Das alles, wird dem lieben
Tagebuch anvertraut, sei gewesen wie „zehn Etagen tief“ im Leben hinabzusteigen.
Trotzdem ist die Botschaft des Inhaftierten voller Kampfgeist: „Hasst mich, ich
lebe! Sperrt mich ein, ich lebe! Ihr könnt nichts dagegen tun.“
Gleich am
ersten Tag fällt der Häftling neben seiner Pritsche auf die Knie und
bittet
Gott um „die Kraft, das Kreuz dieser Ungerechtigkeit zu tragen“. Danach
habe er
sich heiter und kraftvoll gefühlt. Sarkozy beschreibt sich in seinem
Tagebuch
als ein widerstandsfähiges, katholisch empfindsames, moralisch
geläutertes
Oberhaupt einer glücklichen französischen Patchworkfamilie, das die
Trennung
von seiner geliebten Frau kaum erträgt („Wir waren in den 18 Jahren
unserer Ehe
nie länger als zwei oder drei Tage ohneeinander“). Trotz des ständigen
Lärms und
des Geschreis in der Nacht ist er voller Milde und Mitgefühl für seine
Mitgefangenen. Die Güte und Nachsicht verlassen ihn erst, als er auf den
politisch
Verfolgten der französischen Justiz zu sprechen kommt. Das „Undenkbare“
sei eingetreten: Ein Nachfolger Charles de Gaulles wird von der Linken
gejagt und in einer lichtlosen
Pariser Gefängniszelle in die Knie gezwungen.
Die
Tagebuchseiten füllen sich mit Anklagen gegen die staatlichen Institutionen des
Landes, das der Häftling Nummer 320535 einst regiert hat: Die Justiz messe mit „zweierlei
Maß“. Ihre „Schnelligkeit und Strenge“ beschränke sich auf Fälle, in denen „es
um rechte Verantwortliche ging“. Eine Minderheit führe in Frankreich einen
effizienten ideologischen Kampf gegen die Rechte, deren Symbol er sei. Er sei
das Opfer von „Fälschern, Verschwörern und Lügnern“. Die Justiz sei „keine
Autorität“ mehr, sondern „eine Macht“, die ideologische Zwecke verfolge. „Die
Grundregeln des republikanischen Systems“ würden in Frankreich „mit Füßen
getreten“.
Man wird
sich diesen historischen Augenblick merken müssen: Der Weihnachtsbestseller der
Franzosen im Jahr 2025 ist ein Buch, in dem ihr ehemaliges Staatsoberhaupt die Glaubwürdigkeit
des französischen Staates und die Unabhängigkeit seiner Justiz bestreitet.
Von seinem
Wandtelefon lässt der Inhaftierte sich mit der Chefin des rechten Rassemblement National verbinden, um ihr für ihre Unterstützung zu danken. Auf die Frage Marine
Le Pens, ob der Gefangene eine wie immer geartete Brandmauer („front
républicain“) unterstützen (und damit die Partei Le Pens nach den nächsten
Wahlen von der Regierungsbildung ausschließen) würde, lautet seine Antwort
unmissverständlich: „Nein.“ Er sehe im Rassemblement National „keine Gefahr für
die Republik“. Die Partei bei der Regierungsbildung zu berücksichtigen, komme
ihm „so natürlich wie notwendig vor“. Alles
andere wäre ein Fehler.
Sarkozy beteuert zwar, viele wirtschaftspolitische
Überzeugungen der Rechtspopulisten nicht zu teilen. Doch folgt er in seinem
Gefängnistagebuch nahezu auf jeder Seite der klassischen populistischen
Erzählung vom Volkswillen, der vor der Staatsmacht geschützt werden muss: „Die
Führungskräfte des Rassemblement National zu beleidigen, bedeutet, ihre Wähler
zu beleidigen, zumindest potentiell also auch unsere. Man gewinnt Frankreich
nicht, indem man die Franzosen beleidigt.“ Seine tiefe Verbundenheit mit
Frankreich und dem französischen Volk habe der Häftling erst durch den
massenhaften Zuspruch der Franzosen in der Haft erfahren. Allein 22 Exemplare
der Bibel seien ihm ins Gefängnis geschickt worden.
Nach seiner
Entlassung aus der „Hölle“ hat Nicolas Sarkozy umgehend die „Verzweifelten und
Kranken“ im Wallfahrtsort Lourdes aufgesucht. Auf der Buchpremiere in Paris erschien
ein blasser, deutlich mitgenommener Autor. Die erste Rezension seines Berichts
aus dem Pariser Kerker wurde von Carla Bruni verfasst: „Dieses Buch ist ein
Wunderwerk der Menschlichkeit und Zärtlichkeit, ein wahrer Schatz an gesundem
Menschenverstand und Lebenskraft, an Tiefe und Weisheit. Und zwischen jeder
Zeile spürt man den Schlag deines Herzens … Unbedingt lesen!“