„Großartiger Nutzen z. Hd. Fleischeslust und zu diesem Zweck, Hoden mit Lebenssaft zu versorgen“
Zu den erstaunlichen Produkten, die im Zuge der großen Entdeckungen nach Europa gelangten, gehörte die Schokolade. War sie Medizin, Fastenspeise, Aphrodisiakum? Wissenschaftler rekonstruieren in frühneuzeitlichen Texten eine leidenschaftliche Debatte.
Bernal Díaz del Castillo wunderte sich sehr, als er mit den Gefolgsleuten des spanischen Konquistadoren Hernán Cortés 1519 in Tenochtitlan, die Hauptstadt der Azteken, einmarschierte. Dort regierte Kaiser Moctezuma II. inmitten einer Pracht, die den goldgierigen Eroberern die Augen übergehen ließ. Obwohl Díaz seine „Wahrhafte Geschichte der Eroberung von Neuspanien“ erst Jahrzehnte später niederschrieb, ist ihm eine Beobachtung in Erinnerung geblieben: Moctezuma bekam „mehr als 50 Becher“ eines Getränks, das „wie sie sagten, gut für den Erfolg bei Frauen sei“. Aus dem indigenen Namen dieses Wundermittels – dem Maya-Wort chocol (heiß) und dem Nahuatl-Wort der Azteken atl (Wasser) – wurde Schokolade.
Sie vervollständigte mit Kaffee und Tee die Trias der neuen Luxusgetränke, mit denen die europäischen Weltentdecker in der Frühen Neuzeit ihren heimatlichen Kontinent konfrontierten. Über die vorsichtige Annäherung berichtete der italienische Kaufmann Girolamo Benzoni: „Sie (die Schokolade) schien eher ein Getränk für Schweine zu sein als für die Menschheit.“ Nachdem er es aber probiert hatte, änderte sich das Urteil: „Der Geschmack ist ein wenig bitter, es sättigt und erfrischt den Körper, macht jedoch nicht betrunken und ist, wie die Indianer dieses Landes sagen, die beste und teuerste Ware.“
Der Geschmack der Schokolade war auf jeden Fall so überzeugend, dass sich in Europa umgehend eine breite Debatte über die Frage entspann, wie dieses erstaunliche Getränk zu charakterisieren sei und ob man seinen Genuss überhaupt mit Religion, Moral und Gesundheit in Einklang bringen könne. Da dieser Diskurs zumeist in der damaligen Gelehrtensprache Latein geführt wurde, haben Latinisten des Instituts für Altertumskunde der Universität Köln zusammen mit Fachleuten des Schokoladenmuseums in der Domstadt begonnen, Quellentexte zu sammeln, sie für eine kommentierte Edition aufzubereiten und ins Deutsche zu übersetzen.
„Während volkssprachliches Material bereits einige Behandlungen erfuhr, liegt im neulateinischen Bereich eine hohe Zahl noch nicht erfasster Texte vor, die ein breites Panorama neuer Perspektiven eröffnen“, sagt die Altphilologin und Projektleiterin Anja Bettenworth. Das erfordert auch detektivische Kärrnerarbeit in den Katalogen europäischer Bibliotheken und Archive. „Frühneuzeitliche Drucke fanden für die Schokolade zahlreiche Namen, deren Bedeutung sich nicht auf den ersten Blick erschließt“, erklärt Projektmitarbeiter Sven Johannes. Das Spektrum reicht von „mexikanischem Nektar“ über „süßes Getränk“ bis zur „Speise der Götter“.
Unter Letztgenanntem firmiert auch die Quelle der neuen Köstlichkeit, der Kakaobaum, dem der Naturkundler Carl von Linné den lateinischen Namen Theobroma cacao gab, nach altgriechisch theós (Gott) und brôma (Speise). Damit traf der Schwede ziemlich genau den Rang, den die Azteken dem Kakaoerzeugnis beimaßen, das übrigens bis ins 19. Jahrhundert stets getrunken wurde; Tafelschokolade ist ein Produkt der Industrialisierung. Für Moctezuma und seine Untertanen war das „bittere Wasser“ nicht zuletzt ein wichtiger Begleiter für religiöse Rituale und überwiegend den Eliten vorbehalten, zu denen auch die Krieger zählten.
Die Samen des Kakaobaums waren so wertvoll, dass sie als Zahlungsmittel dienten. Europäische Autoren fanden darin ein probates Mittel, für den Konsum der Schokolade zu werben: „Oh glückliche Münze, die der Menschheit ein süßes und nützliches Getränk bietet und ihre Besitzer gegen die höllische Krankheit der Habsucht immun macht, weil man sie nicht im Boden vergraben und auch nicht lange aufbewahren kann“, frohlockte der italienische Mönch und Geograf Petrus Martyr d‘Anghiera in seinem achtbändigen Werk „Über die Neue Welt“. Damit verhalf er dem fremden Getränk zu einem Spitzenplatz im Wertekosmos Europas, wirkte es doch offenbar gegen Habgier und Völlerei.
Von da war es in den Medizinschrank nicht weit. Obwohl der niederländische Privatgelehrte Johannes de Laet warnte, dass „unmäßiger Gebrauch des aus Kakao hergestellten Getränks Verstopfung verursache“, trug die Mehrheit der Autoren gute Argumente vor, um die Schokolade für die Volksgesundheit zu sichern. So befand kein Geringerer als der Leibarzt Philipps II. von Spanien, Francisco Hernández de Toledo: „Sie wärmt den Magen, parfümiert den Atem … bekämpft Gifte, lindert Magenschmerzen und Koliken“ und regt nicht zuletzt „die geschlechtliche Lust an“.
Dem konnte der englische Arzt Henry Munday nur beipflichten, indem er von einer unfruchtbaren Frau berichtete, die nach dem Genuss von Schokolade Drillinge geboren habe, die sogar am Leben geblieben seien. Von dem französischen Staatsmann und Kardinal Richelieu wusste der Arzt und Linné-Schüler Anton Hoffmann, dass jener „solange er lebte von einer hypochondrischen Erkrankung befallen wurde, und, nachdem er alle Hilfsmittel erfolglos zur Anwendung gebracht hatte, endlich durch den Genuss der Schokolade seine frühere Gesundheit zurückerlangte“.
Bevor die Zeitgenossen unbeschwert zum Wundertrank greifen konnten, mussten Theologen jedoch ausgiebig die Frage erörtern, ob er denn auch während der Fastenzeiten seine Wirkung entfalten dürfe. Richelieus italienischer Kardinals-Kollege Francesco Brancaccio kam zu dem Schluss, dass die Schokolade ein „mageres“ Getränk sei, das keines Verbotes bedürfe, sondern das sogar die Geisteskräfte stärken würde. „Diese Verknüpfung zwischen Beobachtungen aus der fremden Welt Amerikas mit vertrauten christlichen Denkstrukturen war keine Seltenheit“, erklärt Anja Bettenworth: „Auf diese Weise wurde das Unbekannte nicht nur beschrieben, sondern auch in das eigene Weltbild integriert.“
Indem Kakao-Samen als wertvolle Medizin oder gar moralisch hochwertiges Zahlungsmittel der Indigenen gedeutet wurden, wurde ihnen zugleich zugestanden, dass sie für die Mission geeignet waren. Damit war auch sichergestellt, dass ein Getränk, das bei den Azteken noch bei heidnischen und – was die Spanier erschreckte – durchaus blutigen Ritualen Anwendung gefunden hatte, in christlicher Umgebung keine Teufelei hervorrief, sondern eine segensreiche Wirkung entfalten konnte.
Diese „Schokoladen-Diät“, die eine französische Diplomatengattin für den Erhalt ihrer Gesundheit verantwortlich machte, blieb allerdings in den meisten Ländern Europas ein Privileg der besseren Gesellschaft. Anders als Tee oder Kaffee, denen die Metamorphose vom elitären Arzneimittel und exotischer Luxusdroge zum Massengenussmittel schnell gelang, tat sich die Schokolade schwer damit, größere Käuferkreise zu erschließen. Das hing zum einen an der Empfindlichkeit des Kakaobaums, der keine Trockenheit und Temperaturen unter 16 Grad verträgt, anfällig gegen Krankheiten ist und am besten auf schattigen Standorten gedeiht. Preiswerter Plantagenanbau in großem Stil war mit ihm nur bedingt zu machen.
Auch pflegten die Europäer die Bitterkeit ihrer heißen Schokolade durch die Zugabe von allerlei fremdartigen und damit teuren Kolonialwaren zu mildern. Zimt, Vanille, Chili, Anis und natürlich Rohrzucker aus der Karibik sorgten dafür, dass sich in West- und Mitteleuropa nur Adlige und wohlhabende Bürger den Genuss des Göttertranks leisten konnten. Wie deren Zeugnisse zeigen, machte man sich über Produktionsbedingungen und Ausbeutung in den Kolonien keine Gedanken.
„Auf solche blinden Flecken in den historischen Texten hinzuweisen, ist auch deshalb spannend, weil dies Ansätze für neue Forschungsfragen bietet, die oft erst in der interdisziplinären Zusammenarbeit verschiedener Institutionen und Fächer geklärt werden können“, sagt Anja Bettenworth: „Zu erkennen, was der Text sagt und was er nicht sagt, ist deshalb ein wichtiger Teil unseres Projekts, von dem wir uns neuen Erkenntnisgewinn erhoffen.“
In der Kolonialmacht Spanien und dem mit ihm verbundenen Italien avancierte die Schokolade jedoch früh zum populären Genussmittel. Nach Kardinal Brancaccio wurde „die Schokolade in Hispanien, das eine sehr heiße Region ist, zweimal am Tag getrunken, und zwar nicht nur von den Vornehmen, sondern auch von Bürgern mittleren Standes. Keine Schokolade zu haben, bedeutet das größte Unglück.“ Es ist überliefert, dass in Spanien selbst die Delinquenten, die von der Inquisition der Peitsche oder dem Feuertod im Autodafé überantwortet wurden, mit der „Götterspeise“ für ihre anstehenden Leiden gestärkt wurden.
Auch wurde ihnen damit womöglich eine Ahnung vom Paradies vermittelt, sollen doch schon Cortés und seine Konquistadoren beim Probieren der Schokolade auf den Gedanken verfallen sein, ein solcher Trank könne nur göttlichen Ursprungs sein. Diesen Schluss zumindest legte der Italiener Gianbattista Marieni in einem noch unerschlossenen lateinischen Epos den Konquistadoren in den Mund.
Einen schwunghaften Handel mit Kakao unterhielten Mitglieder der Gesellschaft Jesu. Hauptamtlich damit beschäftigt, den neuen Untertanen der spanischen Krone den christlichen Glauben zu predigen, wird auch von Jesuiten berichtet, die Kakaobäume kultivierten. Ein Bruder wurde sogar aktenkundig, als er bei dem Versuch erwischt wurde, Gold nach Europa zu schmuggeln, indem er den Barren mit Schokolade ummantelte und an seine Ordensoberen adressierte.
Für deren Verständnis steht eine Geschichte, die unter anderem in ein hymnisches Lehrgedicht des neapolitanischen Jesuiten Tommaso Strozzi Eingang gefunden hat. Darin ist von einer Jungfrau die Rede, die nach leidenschaftlichen Gesprächen mit Gott Hitzewallungen überkamen. Plötzlich erschien neben ihr ein himmlischer Bote, der ihr eine Tasse Schokolade reichte. „Indem sie sich mit dem Mund und mit ganzer Seele in die Wunden Christi vertieft, während sie die köstliche Schokolade trinkt, wird die junge Frau nicht nur vom Fieber geheilt, sondern begegnet dem gekreuzigten Christus selbst“, erklärt Anja Bettenworth die himmlische Botschaft.
Ihr exklusiver Charakter errichtete der Schokolade jedoch vielerorts gesellschaftliche Hürden, die erst ihre leichtere Verfügbarkeit im Zuge des technischen Fortschritts des 19. Jahrhunderts einebnete. Bevor sie in fester Form zum Genussmittel für breite Massen wurde, sorgte ihr Konsum in privilegierten Kreisen dafür, dass „aus der Schokolade geradezu ein Symbol der Verweichlichung und Nutzlosigkeit der Aristokratie (wurde), die dem Aktivismus und der klaren Rationalität des Bürgertums gegenüberstanden“, schreibt der italienische Historiker Massimo Montanari.
Es gab aber Ausnahmen. Der Engländer Henry Stubbe, ein bürgerlicher Arzt, pfiff auf die Dekadenz und erklärte seine Begeisterung für Schokolade mit ihrem „großartigen Nutzen für die Fleischeslust und dafür, die Hoden mit einem Balsam oder Lebenssaft zu versorgen“. Das zeitgenössische Rezept auf der Insel, das die Zugabe von Ei und Milch empfahl, was eine fette, buttrige Substanz erzeugte, könnte jedoch dazu beigetragen haben, dass Stubbes Landsleute dem Tee den Vorzug gaben.
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Source: welt.de