Zwischen Trauer, Angst und rechter Gewalt – Magdeburg ein Jahr nachher dem Anschlag

Magdeburg, Ende November. Das Lichterfest, ein jährlich wiederkehrendes überdimensionales Spektakel, leuchtet die Innenstadt aus. Der Weihnachtsmarkt wurde dann doch eröffnet, „still“, ohne Programm.

Zwischen all dem Trubel sticht auf dem Weg zum Alten Markt an der Ernst-Reuter-Allee etwas heraus: Dunkel liegt hier eine fest eingelassene Platte auf dem Gehweg. Sie erinnert an Rita Staab, 75-jähriges Opfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024. Der saudische Mediziner Taleb al-Abdulmohsen war an dieser Stelle damals durch die Menschenmenge gefahren. Der Generalbundesanwalt spricht von einer Amokfahrt. Es gab sechs Tote, Hunderte Verletzte und unzählige Betroffene.

Im Rathaus, das auf den Alten Markt blickt, gibt es für die Opfer einen improvisierten Gedenkort im sogenannten Saal der Partnerstädte. Niemand ist heute zu Besuch. Dafür steht der Plan für den Jahrestag: ökumenischer Gedenkgottesdienst in der Johanniskirche, Veranstaltung der Landeshauptstadt für Betroffene und Hinterbliebene sowie geladene Gäste. Eine live und auf Großbildleinwand übertragene Gedenkstunde in der Johanniskirche, Lichterkette, Glockenläuten um 19.02 Uhr.

Der Prozess gegen den Täter hat derweil in einer riesigen Leichtbauhalle begonnen. Die ersten Verhandlungstage waren dominiert von wirr scheinenden Äußerungen Abdulmohsens. Nur noch ein Bruchteil der Plätze gefüllt, das mediale Interesse ist nach Prozessbeginn rapide abgeflaut.

Vor einem Jahr sah das noch anders aus. Die rechtsextreme AfD-Fraktion des Landtages hatte direkt nach dem Anschlag verkündet, die „Verantwortlichen“ säßen „in Berlin und in Magdeburg in der Regierung“. Alice Weidel durfte am 23. Dezember 2024 auf dem Domplatz Wahlkampf betreiben. Der verheerende Anschlag: ein propagandistisches Geschenk für die Rechtsextremen – auch wenn der Täter ideologisch schwer einzuordnen war. Im Oktober 2025 liegt die AfD in Sachsen-Anhalt in Umfragen bei um die 40 Prozent. Sie gibt sich siegesgewiss im Hinblick auf die anstehenden Wahlen im September 2026.

Ein unsicheres Zeichen, dass das Leben weitergeht

Die Buden auf dem Alten Markt senden heute an diesem kalten Novembertag ein unsicheres Zeichen, dass das Leben weitergeht. Viele wollen das so hier. Aber die Nachwehen des Anschlags sind noch greifbar. Nicht nur bei Angehörigen und Betroffenen. Mit Maschinenpistolen patrouillieren zahlreiche Polizeibeamte in der Innenstadt, kontrollieren immer wieder Menschen, nehmen Obdachlose fest.

Die Pfeifferschen Stiftungen bieten als bekannte diakonische Einrichtung inzwischen zwei offene, kostenlose und ehrenamtlich betreute Selbsthilfegruppen für Betroffene des Anschlags an. Angesichts des herannahenden Jahrestags nähmen die Anfragen nach Unterstützung wieder zu, erklärt die Theologische Vorständin Ulrike Petermann.

Die Wunden heilen indes nur langsam. Von 1600 polizeilich erfassten Betroffenen sprach die Opferbeauftragte des Landes,Gabriele Theren, im März 2025. Etwa ein Viertel von ihnen hat inzwischen Anträge auf Entschädigung gestellt, ein Viertel, wobei Dopplungen wahrscheinlich sind, werde betreut – das heißt, es gibt bei vorhandenen Plätzen auch Anspruch auf psychotherapeutische Beratung. Das Bundesamt für Justiz hatte außerdem finanzielle Hilfen in Höhe von 25 Millionen Euro bereitgestellt, der Opferhilfefonds des Landes 500.000 Euro. Ausgezahlt ist davon ein Bruchteil. Die bürokratischen Wege zur sozialrechtlich verbürgten Versorgung sind für viele Betroffene weit und beschwerlich. Wer sich zurück ins Leben kämpft, kämpft nicht noch mit Formularen. Die Traumata verschlucken Kräfte und Menschen.

Aufarbeitung im Theater, rechtsextremer Protest davor

Und der Nebel der Elbe verschluckt am Abend das bunt geschäftige Treiben in der Innenstadt. Am Universitätsplatz sitzt das preisgekrönte Landestheater. Es will mit „Drei Minuten“ ein Stück auf die Bühne bringen, das den Anschlag zum Thema hat und auch der Stadtgesellschaft bei der Verarbeitung helfen soll.

Es ist schön hier

Saeed Saeed

Vor dem Theater halten Neonazis am 9. November die erste von inzwischen zahlreichen weiteren Kundgebungen ab. Sie fordern „Schluss mit der Politik gegen das eigene Volk“ und behaupten: „Remigration rettet Menschenleben“. Drinnen lauschen Besuchende einer Lesung von Werken Victor Klemperers.

Die Magdeburger Theaterleitung verfasst seitdem Stellungnahmen, in denen sie ihre Arbeit rechtfertigt und erklärt, warum diese Art Kundgebungen ein Angriff auf Kultur und Demokratie sind. Denny Zenker, Anmelder der rechtsextremen Kundgebungen, darf derweil in der Regionalzeitung „Volksstimme“ seine „Kritik“ am geplanten Stück ausführen. Zenker gibt sich als Sprachrohr der Anschlagsopfer und Initiator von Gedenkaktionen. Die Gruppe der Angehörigen ist allerdings sehr fragmentiert. Auf Zenkers Kundgebung am 9. November spricht eine Person der Neonazigruppe „Harz verteidigen“.

Nach dem Anschlag bricht eine Welle rassistischer Gewalt los

„Es ist schön hier“, sagt Saeed Saeed. Freundlich blickt er durch die runden Brillengläser – ein Student wie Tausende hier. Im „Wewerka“, einem syrischen Café in Bahnhofsnähe, rührt er seinen Kaffee und sortiert seine Gedanken. Magdeburg sei international, grün, mit vielen Studierenden, sagt er. Und die Elbe eben. Der 25-Jährige sitzt im Migrationsbeirat der Stadt, ist Vorstand des Syrisch-Deutschen Kulturvereins und seit knapp einem Jahr nahezu überall anzutreffen, wo es um die Folgen des Anschlags für die hier lebenden Menschen mit Einwanderungsgeschichte geht.

Denn schon in der Nacht des 20. Dezembers 2024 bricht sich in Magdeburg eine rassistische Gewaltwelle Bahn, die viele im Schockzustand erreicht. Eine junge Krankenschwester, die gerade noch in der Notaufnahme Schwerverletzte versorgt, wird an ihrem Auto angegriffen. Menschen werden auf der Straße beleidigt und beschimpft. 2000 Rechtsextreme versammeln sich am Abend darauf am Hasselbachplatz, gehen auf Journalisten, Migranten und Polizisten los – darunter auch Personen von „Harz verteidigen“. Gruppen von mehreren Personen schlagen in den kommenden Tagen einzelne Menschen wie den DJ Brahim B. auf offener Straße krankenhausreif, tauchen immer wieder an Straßenbahnhaltestellen auf. Auch in unmittelbarer Nähe zum Alten Markt, auf dem noch wie eingefroren die bei der Todesfahrt heruntergerissene Dekoration liegt, verlorene Kleidungsstücke, Pappbecher.

Die Gewalt zieht sich in das Neue Jahr. Überwältigt erleben Menschen mit nicht-deutschem Akzent, die in Call-Centern arbeiten, wie sie am Telefon bedroht und beschimpft werden. Eltern eines Kita-Kindes wollen dieses nicht mehr von der Erzieherin, die als Muslima erkennbar ist, betreuen lassen.

Wir hatten keinen Platz zum Trauern. Es war fatal, krass. Es war ein Tsunami

A., Berater bei „Entknoten“ von LAMSA

„Beleidigungen, Hakenkreuze an Haustüren, Drohbriefe im Briefkasten, das Schwärzen migrantischer Namen an Klingelschildern, Sachbeschädigungen“, meldet damals das Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen (LAMSA) der Fachorganisation CLAIM. Die Dunkelziffer ist wohl höher. 2500 Taschenalarme werden von LAMSA an verängstigte Menschen ausgegeben, die sich auf den Straßen der Stadt weder sicher noch beschützt fühlen. Zur selben Zeit versorgen Mitarbeitende im Universitätsklinikum immer noch die Schwerverletzten des Angriffs – das Klinikpersonal stammt selbst aus 20 Nationen.

Es eskaliert derart, dass LAMSA in seinen Räumlichkeiten einen Schutzraum einrichtet, eine Art Notunterkunft für viele Verängstigte. „Mehr als 80 Menschen haben mehrere Nächte bei uns kampiert“, erinnert sich A., Berater bei „Entknoten“ von LAMSA. Sein Name soll aus Schutzgründen nicht genannt werden. „Die Gewalt ist noch einmal schlimmer geworden, nachdem Alice Weidel im ZDF behaupten durfte, dass der Täter Islamist war“, sagt A. Dabei habe schon am Tag nach der furchtbaren Tat festgestanden: „Taleb Abdulmohsen war alles, aber kein Islamist.“

40 Angriffe mit direktem Bezug zum Anschlag zählt allein LAMSA in den ersten drei Monaten nach dem 20. Dezember 2024 Von zahlreichen rassistischen Übergriffen erfährt man erst später. „Wir waren überrascht von der Quantität und der Qualität der Angriffe in so kurzer Zeit“, sagt A. Aggressiv, pauschalisierend, angetrieben von Vorurteilen, grenzenlos angestachelt vom Bundes- und Landtagswahlkampf der AfD. „Wir hatten keinen Platz zum Trauern. Es war fatal, krass. Es war ein Tsunami.“

Flucht aus dem Gefahrengebiet

Und wie vor oder nach einem Tsunami auch verlassen Menschen das Gefahrengebiet. „Wir konnten schnelle und gute Unterstützungsangebote bereitstellen, aber der Prozess einer gemeinsamen Verarbeitung braucht Zeit, die wir nicht haben“, stellt der Berater fest. Sachsen-Anhalt habe bewiesen, dass es „keine und wenn, dann nur eine schwache und labile Willkommenskultur hat“. Zu spät scheinen einzelne Verantwortliche in Politik und Sicherheitsbehörden die Notwendigkeit einer anderen gesellschaftlichen Kultur zu erkennen, meint A. Nun verlassen Menschen das Bundesland. Nicht nur die AfD, auch der Täter selbst dürfte damit eins ihrer perfiden Ziele erreicht haben.

Warum redet man nicht mit uns?

Saeed Saeed

Ulrich Siegmund, Spitzenkandidat der AfD-Landesfraktion, hat ein „100-Tage-Programm“ verkündet, für den Fall, dass die AfD eine Alleinregierung bilden könne, inklusive großangelegter „Abschiebeoffensive“, Streichung von Geldern für „linksextreme Vereine“, Umgestaltung der Landeszentrale für politische Bildung in ein „Institut für staatspolitische Bildung und kulturelle Identität“. Allein die ökonomischen Folgen wären laut A. fatal. „Wenn in den Logistikzentren der großen Konzerne zwei Drittel der Mitarbeitenden migrantisch sind, wer wird unter einer AfD-Regierung Pakete ausfahren? Wer wird die Ärzte in den Krankenhäusern ersetzen?“

„Warum redet man nicht mit uns?“, fragt zudem Saeed. Der junge Mann erklärt bedächtig und schnell zugleich, was er im vergangenen Jahr zu oft sagen musste: „Natürlich machen solche Anschläge Angst und auch Wut. Aber das rechtfertigt nicht körperliche Gewalt gegen Menschen mit Migrationsgeschichte.“ Dass im Juli ein dreijähriges syrisches Kind laut Berichten angefahren worden sein soll, nachdem der 61-jährige Autofahrer die dazugehörige Gruppe Erwachsener auf einem Parkplatz rassistisch beleidigt hatte, macht ihn fassungslos.

Wie Betroffene Kraft aus der Community ziehen

Er ziehe viel Kraft „aus der Community, einer großartigen Vernetzungsarbeit, auch aus der Aufarbeitung der Ereignisse“, sagt Saeed. Es gibt Orte, wo Betroffene des Anschlags und Opfer der rassistischen Attacken zusammen kommen. Auch dass Simone Borris, parteilose Oberbürgermeisterin der Stadt, die rassistische Gewalt anerkannt habe, rechnet er ihr hoch an. Die Stadt habe es „nicht verdient“, nur negativ dargestellt zu werden, so der junge Mann. Er kenne auch die „anderen Menschen“.

Wenn man nur sagt, die AfD wird immer stärker, beschwört man das natürlich auch

Christiane Lähnemann, Netzwerk Solidarisches Magdeburg

Zu den „anderen“ gehört etwa Christiane Lähnemann vom Netzwerk Solidarisches Magdeburg. Seit vielen Jahren kämpft die pensionierte Lehrerin in Bündnissen wie Sachsen-Anhalt Weltoffen gegen die AfD. Allein hier organisieren sich Menschen aus 170 Initiativen. Bei den Omas gegen Rechts gäbe es inzwischen sogar Ortsgruppen in Köthen, Haldensleben, der Altmark. Orte, in denen die AfD immer wieder die Straße für sich beansprucht – und die Deutungshoheit in der öffentlichen Debatte sowieso.

„Wenn man nur sagt, die AfD wird immer stärker, beschwört man das natürlich auch“, sagt Lähnemann. Aber vor allem die Abhängigkeit von öffentlichen Geldern mache es der kritischen Zivilgesellschaft schwer. Schon seit ihrem Einzug in den Landtag im Jahr 2016 geht die AfD rigoros gegen diese vor. Sie stellt Kleine Anfragen, droht, verklagt, verunglimpft. Mit 45 Prozent der Stimmen könnte die AfD allein regieren.

Erinnerungen an die Magdeburger „Himmelfahrtskrawalle“

„Wo fing das an und wann?“, fragte die Band „Die Sterne“ im Jahr 1996. An die Magdeburger „Himmelfahrtskrawalle“ erinnern sich nur manche. Am 12. Mai 1994 jagten rechtsextreme Jugendliche migrantische Menschen stundenlang durch die Magdeburger Innenstadt. Sechs Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Opfer, der Algerier Farid Boukhit, stirbt an seinen Verletzungen im September 1994.

Zwei Jahre zuvor, im Mai 1992, hatten Neonazis eine Geburtstagsfeier angegriffen und dort den 23-jährigen Thorsten Lamprecht so brutal verletzt, dass er im Krankenhaus an seinen Verletzungen starb. Im Februar 1997 traf es den jungen Punk Frank Böttcher, der an einer Straßenbahnhaltestelle von Neonazis ermordet wurde. Die Rolle der Polizei in diesen und anderen Fällen rechtsextremer Gewalt wird stark kritisiert.

Es gibt Narben in Magdeburg, die über den Marktplatz in der Innenstadt hinausreichen und älter sind als der 20. Dezember 2024. Die Folgen jenes Tages reihen sich ein in eine lange Geschichte rechter Gewalt in dieser Stadt – und in das jahrzehntelange Versagen politisch Verantwortlicher und Behörden, ihr entschieden entgegenzutreten.

Ob die noch offenen Wunden des Anschlags verheilen oder schlimmer werden, ist ungewiss. Auch, ob es hier langfristig gelingen kann, den Kreislauf aus Trauer, Angst und Hass zu durchbrechen. Daran wird sich letztendlich zeigen, in welche Richtung das Land als Ganzes geht.