Regime gegen BBC: Georgische Gegenerzählungen

In Georgien reagiert das Regime des Milliardärs Bidsina Iwanischwili, der ohne eigenes Staatsamt herrscht, gerade so wie immer, wenn es in die Defensive gerät: Gegenvorwürfe werden erhoben, Gegennarrative verbreitet, Strafverfahren eröffnet. Die Machthaber antworten so auf ei­nen Bericht der BBC aus der vorigen Woche. Er legt nahe, dass die Sicherheits­kräfte vor einem Jahr einen unter dem Namen Camite bekannten Kampfstoff gegen Demonstranten verwendet haben, den Frankreich im Ersten Weltkrieg ge­gen das deutsche Heer einsetzte.

Der georgische Staatssicherheitsdienst teilte am Wochenende mit, dass die Po­lizei mit CS-Gas gegen Demonstranten vorgegangen sei. Aber „niemals erworben“ habe man Brombenzylcyanid – das ist die wissenschaftliche Bezeichnung für Camite. Vorige Woche hatte ein früherer Innenminister dagegen noch gesagt, Camite und andere Stoffe seien sehr wohl erworben und benutzt worden, aber „vor dem Jahr 2012“, als bevor Iwanischwilis Partei Georgischer Traum an die Macht gekommen ist.

Die Demonstrationen in Tiflis, gegen die Camite eingesetzt worden sein soll, richteten sich gegen die vom Regime verkündete „Aussetzung“ des EU-Beitrittsprozesses. Die BBC hatten mit Demons­tranten, Ärzten, Informanten aus den Sicherheitskräften sowie mit Che­mie­waf­fen­fachleuten gesprochen. Das Camite wurde demnach vermutlich über die Wasserwerfer versprüht, die eingesetzt wurden, um die Demonstranten von der Rustaweli-Straße im Zentrum der Hauptstadt zu vertreiben. Betroffene hatten danach über teils wochenlange Gesundheitspro­bleme geklagt, über Hautreizungen, die durch Waschen nur noch schlimmer wurden, Atemnot, Husten, Erbrechen, Kopfschmerzen, Müdigkeit.

Scharfe Kritik aus Europa

Die Machthaber hatten die Ergebnisse der Recherche schon gegenüber der BBC als „absurd“ und als „Lüge“ zurückgewiesen; sie haben angekündigt, den Sender zu verklagen. Irakli Kobachidse, der für Iwanischwili als Regierungschef fungiert, sagte später, der Bericht sei nicht nur falsch, „sondern auch eine billige Provokation, die von ausländischen Geheimdiensten geplant worden ist“. Erstes Ziel sei es, die Proteste, die „vollkommen“ zum Erliegen gekommen seien, „künstlich zu befeuern“. Daraus spricht der Ärger der Machthaber über ihre Gegner. Zwar sind die Proteste viel kleiner geworden, auch weil immer mehr Oppositionspolitiker und Demonstranten inhaftiert werden. Trotzdem gehen sie auch mehr als 370 Tage nach ihrem Beginn weiter, trotz vieler Gefahren, unter denen hohe Bußgelder eine der geringeren sind.

Zweitens, fuhr Kobachidse fort, solle der Bericht dazu dienen, „das georgische Volk und ihre gewählte Regierung weiter zu erpressen“. Daraus spricht Unmut darüber, dass sich Vertreter des Regimes angesichts der nach vielen Anzeichen manipulierten Parlamentswahlen von Ende Oktober 2024 schwer damit tun, abseits von Ländern wie Viktor Orbáns Ungarn und Robert Ficos Slowakei wieder Anschluss im Westen zu finden.

Auch beim jüngsten Ministerrat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa musste sich die nach Wien gereiste Regimevertreterin vorige Woche Vorwürfe anhören. Die Außenministerin Finnlands, das in diesem Jahr den turnus­mäßigen Vorsitz innehat, sprach von Ge­orgiens „demokratischen Rückschritten“. Davon ist auch in den Georgien-Berichten der EU die Rede. Deren Außenbeauftragte, Kaja Kallas, sagte vor Kurzem, das Land habe „zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen praktikablen Weg in die EU“. Neben dem harten Vorgehen gegen die Opposition kritisiert die EU auch die moskaufreundlichen Linie des Regimes.

Beifall aus dem Kreml

Der Kreml spendet zwar dem „souveränen“ Kurs des Nachbarlandes Beifall und rügt eine „westliche Einmischung“. Doch ist eine offene Annäherung unmöglich, solange russische Truppen auf 20 Prozent des georgischen Staatsgebiets stationiert sind. Jüngst hob das Außen­ministerium in Moskau hervor, die Bedingungen dafür, einen „politischen Dialog“ zwischen beiden Ländern wieder aufzunehmen, seien nicht gegeben, solange Tiflis an der unter dem früheren – und unter Iwanischwili seit gut vier Jahren inhaftierten – Präsidenten Micheil Saakaschwili bezogenen Position festhalte, die diplomatischen Beziehungen erst wieder aufzunehmen, wenn Moskau die nach dem Krieg von 2008 erfolgte Anerkennung der beiden abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien als Staaten zurücknehme. „Der Ball ist auf der georgischen Seite“, zitierte die kremltreue Zeitung „Iswestija“ das Ministeri­um weiter.

Micheil Kawelaschwili, der für Iwanischwili das Präsidentenamt bekleidet, stellte den BBC-Bericht als Quittung eines „tiefen Staates“ dafür dar, dass sich Georgien weigere, „Aufgaben“ zu er­füllen. Die angebliche Kränkung durch den Westen wird kultiviert. Der Staats­sicherheitsdienst nahm als Reaktion auf die Enthüllung Ermittlungen auf, einerseits wegen des Verdachts auf Machtmissbrauch zulasten der Demonstranten, andererseits wegen möglicher „Hilfeleistung für eine ausländische Organisation bei feindlichen Aktivitäten“.

Insbe­son­dere zu diesem Vorwurf wurden Georgier vernommen, die im Bericht zu Wort kommen oder deren Arbeit darin verwendet wird. Vonseiten des Geheimdiensts hieß es weiter, man habe einzig den in der Ukraine weilenden früheren Innenministeriumsbeamten Lascha Schergelaschwili nicht vernehmen können. Dieser hatte der BBC unter anderem gesagt, eingesetzt worden sei vermutlich eine Substanz, die er 2009 getestet und wegen schwerer Gesundheitsfolgen ab­gelehnt habe. Schergelaschwili werde in anderer Strafsache gesucht, hob der Geheimdienst hervor: Einer „Version“ zufolge könnte der frühere Beamte für „ukrainische Geheimdienste“ den Kauf von Waffen für Unruhen in Tiflis in Auftrag gegeben haben.

Source: faz.net