Besuch im Rahmen Mick Herron: Der Mann aus Oxford, jener die „Slow Horses“ erfand“
Mick Herron wartet vor den neoklassizistischen Säulen des Ashmolean Museum von Oxford und fällt gar nicht weiter auf. Ein grau melierter Brite in grauer Winterjacke mit freundlich-offenem Gesicht, der hier, in dieser weltberühmten Universitätsstadt, auch als Dozent an einem der vielen Colleges durchgehen würde. Das könnte Teil seines Geheimnisses sein: Denn Mick Herron schreibt Spionagethriller, deren Prinzip es ist, Erwartungen erst mal zu unterlaufen. Herron macht das so erfolgreich und wirkungsvoll, dass er schon als Erbe von John le Carré bezeichnet worden ist, vielleicht der berühmteste Autor des Genres.
Der Spionagethriller, wird Herron etwas später in unserem Gespräch sagen, sei ja seit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten aus der Mode gekommen und kehre erst jetzt zurück, da russische Giftmorde, Fensterstürze und Schalldämpferattentate auf Dissidenten nichts Neues mehr in den Nachrichten sind.
Dekonstruktion eines Formats
Mick Herrons Bücher aber – in dieser Woche erscheint das nächste auf Deutsch, „Bad Actors“ – sind weniger ein Update als eine Dekonstruktion des Genres, wie es das 21. Jahrhundert auch in anderen Formaten (Science-Fiction-Serie, Horrorfilm) schon hervorgebracht hat. Herron schreibt in der Kenntnis der Tradition über sie hinweg, Humor und Zitat sind dabei elementare Einsatzmittel.
Er schreibt über gescheiterte Existenzen, zufällige Ermittlungsfortschritte, reine Doofheit und die stumpfe, böse Macht der Bürokratie, er ironisiert das Genre und huldigt ihm zugleich, denn Herron ist als Leser mit Graham Greene und John le Carré aufgewachsen, die große Literatur daraus gemacht haben.
Wofür die Männer von John le Carré standen
John le Carré (1931–2020) war selbst Geheimdienstler, bevor er über Geheimdienstler schrieb, britische Männer mit zerrissenen Seelen, deren Lebensunglück nur dann und nur kurz nachlässt, wenn sie ihre Pflicht erfüllen, auch wenn sie vergessen haben, was dahinter steht: die Verteidigung der Freiheit? Gerechtigkeit? Demokratie?
Mick Herron dagegen hat nach seinem Studium in Oxford bei einem juristischen Fachblatt für Arbeitsrecht gearbeitet, pendelte dafür täglich nach London und hat sich im Zug vieles aus der Welt der Spionage für seine Bücher einfach ausgedacht – dabei aber Wahrheiten über Geheimdienste und ihre Fehler, Fehlbarkeiten und politischen Verstrickungen freigelegt. Oft, aber nicht immer dank seines Humors. Und es sind nicht mehr nur Männer im Spiel.
Russische Infiltration, britische Trickser
Seit 2010 sind zwölf Bücher aus Herrons „Slow Horses“-Reihe über den abgerissenen, gerissenen Agenten Jackson Lamb erschienen, der eine Truppe strafversetzter MI5-Leute im abbruchreifen „Slough House“ leitet (daher der Titel): Eigentlich sollen sie dort alle für ihre Fehler büßen, stattdessen retten sie ständig die Welt. Oder die politischen Verhältnisse in Großbritannien: In „Bad Actors“ geht es jetzt um russische Infiltration und rücksichtlose Trickser auf höchster Londoner Regierungsebene.
Fünf Bücher sind inzwischen mit Gary Oldman als Jackson Lamb (Markenzeichen Flatulenz) und Kristin Scott Thomas als dessen elegant-kalter MI5-Chefin Diana Taverner in den Hauptrollen verfilmt worden. Im Oktober hat Apple TV+ dann die nächste Serienadaption von Mick Herrons Büchern aufgelegt, „Down Cemetery Road“, diesmal mit Emma Thompson: Sie spielt, umwerfend, Zoë Boehm, eine Privatdetektivin aus Oxford, die Kriegsverbrechen und eine Regierungsverschwörung aufdeckt und um ihr Leben rennen muss.

Die vier Fälle um Zoë Boehm und ihre Freundin Sarah Tucker (Ruth Wilson) waren die ersten Krimis, die Mick Herron je geschrieben hat, ab 2003 und vor den „Slow Horses“, es war nur eine Frage der Zeit, dass auch sie adaptiert würden. Man kann sich kaum entscheiden, welches Duo es besser macht, Gary Oldman und Kristin Scott Thomas oder Emma Thompson und Ruth Wilson. Vielleicht so: Man kann den stinkigen, stinkenden Jackson Lamb mögen, aber man muss die smarte, punkrockende Zoë Boehm lieben, deren verträumter Mann Joe eine Detektei in einem malerischen Haus in den Gassen von Oxford betreibt, bis er einem britischen Kriegsverbrechen zu nahe kommt und umgebracht wird.
Harry Potter und die anderen Geister von Oxford
Und auch deswegen treffen wir uns hier, in den Gassen von Oxford, am Ashmolean Museum, und laufen durch die Gassen, zu einer Bar, um uns zu unterhalten. Sie liegt nicht weit vom Balliol College, wo Herron studiert hat (genau wie der ehemalige Premier Boris Johnson). Aber in diesem Oxford ist eh nichts besonders weit. Wenn hier in der dunklen Jahreszeit die Lichter langsam ausgehen über den Türmen der Colleges, kann man sich der Magie auch dann kaum entziehen, wenn man den Tag damit verbracht hat, die vielen billigen Souvenirshops zu zählen, in denen man T-Shirts und Sweatshirts mit „Oxford“-Aufdrucken oder Schals in den Farben der vier Häuser von Hogwarts kaufen kann.
Oxford ist eine globale Jugendmarke. Harry Potter hat zwar nie in dieser Stadt im Nordwesten von London studiert, aber die Verfilmungen seiner Geschichten sind hier gedreht worden: Christ Church, das größte College von Oxford, Bodleian Library, die Universitätsbibliothek, beides Kulissen für Harry, die anderen Zauberinnen und Zauberer und ihr Lehrpersonal.
Kopfsteinpflaster, Collegetürme
Fast ist es, als hätten sie alle anderen Geister vertrieben, die hier seit Jahrhunderten über Kopfsteinpflaster und Collegetürme gezogen sind, Geister aus Romanen von Evelyn Waugh und Max Beerbohm, Tolkien hat hier geschrieben und unterrichtet. Oxford ist eine Stadt der Wissenschaft und der Literatur wie sein Zwilling Cambridge, beide sind Leistungszentren der britischen Elite. Die alten Geister sind zwar noch da, aber sie verblassen angesichts der Bildmacht der Erfindungen von Joanne K. Rowling (die in Exeter studiert hat.)

Mick Herron, der aus Nordengland kommt und seit dem Studium hier lebt, hat mit seinen Zoë-Boehm-Geschichten aus Oxford nicht gegen diese Mythen anschreiben wollen, es sind keine Regionalkrimis nach Rezept (wie die bretonischen Banalitäten von Jean-Luc Bannalec), das Setting ist, wie viele der Ermittlungserfolge in Herrons beiden Reihen, Zufall: „Diese Bücher spielen dort, wo ich lebe. Ich habe damals im Süden Oxfords gewohnt, genau dort, wo auch Sarah in ‚Down Cemetery Road‘ lebt. Das ‚Slough House‘ steht um die Ecke vom Ort, wo ich in London gearbeitet habe“, beim Barbican Centre, im Osten der Stadt.
„Oxford ist kein besonders schicker Ort“
„Die Leute denken immer, dass Oxford ein besonders schicker Ort ist, aber das ist es eigentlich gar nicht“, sagt Herron. „Ich glaube nicht, dass ich hier jemals einen Mann mit Melone gesehen habe.“ Es gibt auch nur wenige Adressen und markante Bauwerke in seinem „Down Cemetery Road“. Umso schöner schwelgt die Serienverfilmung jetzt in den Kulissen von Oxford, das Jill Lepore, als sie Mick Herron vor ein paar Jahren für den „New Yorker“ porträtierte, „eine Stadt aus Strandburgen“ nannte. Zwischen diesen Strandburgen radelt Sarah in der Serie hin und her, stapft Zoë in Doc Martens entschlossen der Lösung des Falls entgegen: Emma Thompson (Cambridge, nicht Oxford) gibt ihr – ähnlich wie Gary Oldman seinem Jackson Lamb – viel von ihrer eigenen Aura mit auf den Weg.

Wobei das bei der Feministin Zoë einen anderen Effekt hat als beim fettigen Jackson Lamb: Denn Oldman, inzwischen zum Sir Gary geadelt, hatte vor Jahren im Kino einen von John le Carrés berühmtesten Agenten gespielt, George Smiley – und so legt sich da eine postmoderne Schicht über diese Serienfigur. Da kann Oldman den furzenden (sorry!) Jackson Lamb noch so eklig spielen, der seriöse Oxford-Absolvent Smiley schimmert immer durch.
Herron hat seiner Figur nur wenig Biographie angedichtet: Lamb ist nach dem Mauerfall Mitte der Neunzigerjahren in Berlin stationiert gewesen (erzählt in „Dead Lions“, auf Deutsch 2020 erschienen), Herron hält ihn für jemanden, der „aus der Werkstatt in die oberste Etage befördert worden ist“, ein Mann, dessen Loyalität denjenigen im MI5 gilt, die die Arbeit erledigen, nicht den Anzugträgern, die Entscheidungen darüber treffen. Aber Herron sagt auch über das Nichtausgemalte an der Figur Jackson Lamb: „Wenn es nicht in den Büchern steht, weiß ich es selbst auch nicht.“
Der Geruch des Jackson Lamb
Trotzdem liest man aus diesem fiesen Kerl automatisch viel heraus, was nicht nur mit Gary Oldman in der Serie zu tun hat, sondern auch und vor allem mit dem Großbritannien der Brexit-Ära, in dessen Atmosphäre hinein Mick Herron seine Bücher seit 2010 geschrieben hat. Die Vulgarität des Zynikers Jackson Lamb, der schmatzt und mieft, Löcher in den Socken hat und in seinem Büro im „Slough House“ wohnt, könnte man auch für die Vulgarität der britischen Oberklasse halten, für deren Vorliebe für Obszönitäten.
Eine Nebenfigur in „Down Cemetery Road“, ein hoher Regierungsbeamter, liebt es, mit den widerlichsten sexualisierten Schimpfwörtern um sich zu werfen. Was den Dresscode von Jackson Lamb angeht, könnte man darin auch den Premier Johnson in seinen grellen Turnhosen und absurden Fahrradhelmen erkennen. All das Ausdruck einer Exzentrik, die man sich leisten können muss, Ausdruck maximaler Privilegiertheit Ausgewählter.
Ein ausgebrannter Agent
Er könne diese Lesart nachvollziehen, sagt Herron, aber: „Ich glaube, Lamb ist einfach nur ausgebrannt. Was ihn antreibt, ist Selbsthass, mehr als alles andere. Und die Vorstellung, zur herrschenden Klasse zu gehören, gefiele ihm gar nicht.“ Warum aber dann die demonstrativen Blähungen? Die wirklich kaum auszuhalten und irgendwann auch nicht mehr witzig sind?
Der amerikanische Fernsehmoderator Stephen Colbert hat Gary Oldman vor Kurzem zu Gast gehabt und ihn gefragt, ob es eigentlich auch dessen andere große Filmrollen – als Churchill, als Dracula, als Patenonkel von Harry Potter – verbessern könnte, wenn diese Figuren gelegentlich mal einen fahren lassen würden, und das dann in ein paar Clips vorgeführt – Oldman hat geheult vor Lachen.

Und auch Mick Herron lacht, wenn man ihn danach fragt. Aber er sagt auch: „Es gehörte einfach dazu. Jacksons Job ist es, dafür zu sorgen, dass sich die anderen um ihn herum wirklich schlecht fühlen. Mir war klar, dass er dafür richtig widerlich zu sein hat, dass er richtig grob zu den anderen Figuren sein muss – und dann hat sich das wie von selbst gesteigert. Wenn er widerlich sein muss, dann soll er auch widerlich sein.“
Wer lacht über und liest diese Bücher?
Man kann sich, gerade in einer Internats- und Collegewelt wie der von Oxford, viele Schlafsäle vorstellen, in denen Jungs über so eine Figur lachen. Aber Herrons Bücher erreichen ein Publikum aus Leserinnen wie Lesern gleichermaßen, das berichtet jedenfalls Christian Koch, Inhaber der Berliner Krimibuchhandlung „Hammett“. Wie erklärt sich der Autor das selbst?
„Ich versuche, nicht zu viel über mein Publikum zu spekulieren“, antwortet Herron, der über sich selbst und seine Arbeit zurückhaltend spricht, „weil ich meine Romane auf keinen Fall entlang seiner Erwartungen modellieren möchte. Aber wenn ich raten soll, dann würde ich sagen, dass Leserinnen gern von starken weiblichen Figuren lesen – und ich immer schon versucht habe, solche Figuren zu erfinden, und dass Leserinnen und Leser aller Art Romane mögen, über die man auch lachen kann.“
Brexit-Bücher, bevor der Brexit kam
Herron sagt aber auch: „Meine Bücher haben erst nach dem Brexit ein größeres Publikum erreicht. Ich habe aber offenbar schon Brexit-Literatur geschrieben, bevor der dann tatsächlich eintrat. Es war einfach die Stimmungslage, die zu den Geschichten zu passen schien, die ich erzählen wollte. Und die vom Scheitern und von Enttäuschungen handeln.“ Und vom Misstrauen in Institutionen und Regierungen, einem Misstrauen, das, wie Herron behauptet, viele Menschen heute spüren – was auch die Renaissance des Spionageromans erklären könnte. Wird er eigentlich auch von Leuten aus den realen Geheimdiensten angesprochen? „Schon, aber darüber kann ich nicht sprechen.“
Ein verbreiteter Zynismus also angesichts der politischen Verhältnisse, das ist der Grundton der „Slow Horses“-Spionageromane. „Aber ich glaube, dass es da am Ende mehr um Vertrauensverlust geht. Es ist ja nicht so, dass die Leute sich willentlich über ihre Regierung lustig machen, es geht darum, wie die Regierung die Leute im Stich gelassen hat.“
Und dann zählt der freundliche Mick Herron aus Oxford, für dessen Serienverfilmungen gerade auf Londoner Bussen Reklame gemacht wird, auf, wovon seine Thriller letztlich handeln: „Regierungsfehlverhalten. Regierungskorruption. Regierungsinkompetenz. Man hat sich schon gefragt, was ich wohl mache, wenn die Tories nicht mehr im Amt sind. Aber mir ist das Material nicht ausgegangen, und das wird es auch nicht. Solange es Regierungen gibt, werde ich etwas zu schreiben haben.“
Source: faz.net